Sehr geehrter Herr Meier,
die katholische Kirche unterscheidet deutlich zwischen der Offenbarung, wie sie durch die Hl. Schrift einerseits und die an das Lehramt gebundene Tradition andererseits weitergegeben wird, und Privatoffenbarungen, zu denen u. a. diejenigen von Anna Katharina Emmerick – aber genau so etwa auch die Visionen einer Teresa von Avila - gehören. Damit ist zur Bewertung von deren Herkunft nichts gesagt, wohl aber zu ihrer Allgemeingültigkeit. Solche Einsichten gehören nicht zum allgemein verbindlichen Glauben der Kirche. Letztlich gilt für sie ebenso, was überhaupt für die Verkündigung dient, dass sie dem Wort Gottes zu dienen haben (vgl. Dogmatische Konstitution über die Offenbarung Dei Verbum 10 des Zweiten Vatikanischen Konzils)
Die Heilige Schrift aber lässt an keiner einzigen Stelle einen Zusammenhang zwischen dunkler Hautfarbe und dem Kainsmal zu. Dieses bleibt in Gen 4,15 völlig unbestimmt, wenn es bei wörtlicher Übersetzung des hebräischen Textes heißt: „Und Gott setzte/machte dem Kain ein Zeichen.“ Weder Ort (Stirn o. Ä.) noch Farbe werden angedeutet, sondern allein die Funktion: Kain soll künftig durch ein offensichtlich erkennbares Zeichen davor bewahrt werden, zum Opfer einer Blutracheaktion zu werden.
Innerbiblisch lag es natürlich nahe, dieses von seinem Aussehen her unbestimmte Zeichen durch andere Textstellen doch zu präzisieren. Dazu bot sich das Zeichen des hebräischen Buchstabens „taw“ in Ez 9,4 an, das in damaliger Schrift einem liegenden Kreuz gleicht. Es soll nach den Worten des Propheten auf die Stirn gezeichnet werden, um die so Bezeichneten vor einem Vernichtungsschlag Gottes zu retten, was wiederum an die Rettung der Hebräer in Ägypten erinnert, die ihre Türpfosten mit Blut bestreichen sollten. Die Funktion des Taw-Zeichens ist also eine ähnliche wie bei Kain, kann aber aufgrund der Form schon auf das christliche Erlösungszeichen des Kreuzes bezogen werden.
Dieser Bezug wird schließlich noch verstärkt, wenn die Offenbarung des Johannes wohl im Rückgriff auf Ez 9,4 die Schar der Erlösten mit dem Namen des Lammes (d. i. Christus) und des Vaters auf der Stirn bezeichnet sieht (vgl. Offb 14,1). Hier geht es allerdings weniger um das Zeichen der Rettung, als um ein Zeichen der eindeutigen Christuszugehörigkeit im Gegensatz zu den Ritz- oder Brandzeichen, die römische Sklaven als Zugehörigkeitsmerkmal zu ihrem Herrn tragen mussten (vgl. Offb 13,16f.)
Aus all diesen Ausführungen können Sie entnehmen, dass eine Verbindung des Kainszeichens mit einer Hautfarbe keinerlei Anhalt an der Hl. Schrift hat und eher eine gefährliche Nähe zum Rassismus aufweist, der mit dem christlichen Schöpfungsglauben nicht vereinbar ist.
Mit freundlichen Grüßen
Joachim Kardinal Meisner