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Beantwortet
Autor L. Fernández Vidaud am 10. November 2009
9661 Leser · 0 Kommentare

Sonstiges

Integrität, Gerechtigkeit und Menschenwürde statt sogenannter „Integration“?

Sehr geehrter Herr Senator,

die Positionen Ihrer Partei zu diesem Thema sind schwer nachvollziehbar und grenzen oft an Mißachtung der Menschenwürde.

Ihre Partei strebt nach dem „sozialen [oder nationalen] Zusammenhalt“ des Landes und setzt eine einseitige Integrationspolitik ein, um dieses Ziel zu erreichen. Nicht ethnische Deutsche sowie Ausländer werden aufgefordert, sich der Mehrheit anzupassen, die zur „deutschen Leitkultur“ gehören, während die Mehrheit nicht aufgefordert wird, toleranter gegenüber Menschen anderer Kulturen und Nationalitäten aufzutreten, die andere – manchmal auch bessere – ethische Werte verkörpern als die herkömmlichen der Deutschen. Es gibt auch keinen Anreiz, der geeignet ist, Deutsche zu einer milderen Haltung gegenügber Andersartigen zu bewegen.

Diese Gleichschaltung gilt nicht nur für sogenannte „Ausländer“ [siehe Begriff oben], sondern auch für Frauen und Behinderte. Z.B. müssen sich Frauen in „Mannsweiber“ verwandeln, um in das Berufs- und Wirtschaftsleben als gleichwertig anerkannte Mitglieder aufgenommen zu werden. Behinderte müssen sich – auch in Werkstätten für behinderte Menschen – so verhalten, als ob sie nicht behindert wären, um dort funktionsfähig zu sein und zu bleiben. Alle dieser Personenkreise sind Opfer und Gegenstand zugleich der Zwangsgermanisierung, welche Ihre Partei voranzutreiben sucht. Darin vermute ich eine rassistische Bestrebung seitens der Linken.

Allerdings behauptet die Linkspartei, sie sei gegen die NPD, ihre Vorstellungen von Gesellschaft und Gemeinwohl und ihre nationalsozialistische Weltanschauung, während Ihre Partei an manchen Stellen nach der Verwirklichung ausgerechnet dieser Vorstellungen trachtet.

Die meisten Integrationsprojekte des Staats verstoßen einerseits gegen die allgemeine Handlungsfreiheit des Bürgers aus Art. 7 VvB bzw. Art. 2(1) GG, andererseits gegen die Menschenwürde und den Grundsatz der Gerechtigkeit aus Art. 6 und 22(1) VvB, dem Vorspruch der Landesverfassung bzw. Art. 1 und 2(2) GG. Dennoch werden sie mit der Begründung fortgeführt, daß die Gesellschaft homogen zu werden hat, damit sie überhaupt funktionieren kann. Daraus geht das herrschende sozialstaatliche Ethos hervor. Integration dient nicht dem Menschen, sondern dem Staat und einer intoleranten Gesellschaft. Sie beraubt sowohl den Bürger als auch den Einwohner seines Menschseins. Das Gleichheitsgebot, das eng mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verbunden ist, wird demzufolge zur Pflicht und verliert somit seinen Charakter als Grundrecht, wodurch Menschen entrechtet werden. Es entartet die Menschen. Integration wird zum Gegenteil des Rechts auf die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit – entweder als positives oder als negatives Grundrecht.

Bei manchen, welche die derzeitige Integrationspolitik rechfertigen, wird der Eindruck geweckt, daß sich die Menschen alle gleich zu verhalten und zu sein haben, sonst gefährden sie die Staatssicherheit. Auch hier ist es Zeit, sich zu fragen: „Freiheit oder/statt „Integration“?

Darum frage ich Sie: Gedenken Sie, diese Politik fortzusetzen? Oder ist es nicht Zeit für einen fortschrittsgewandten Kurswechsel? Gerade nach dem gestrigen Jahrestag von „Reichskristallnacht“ am 09.11.1938 sind Überlegungen in dieser Richtung m.E. mehr denn je geboten. Können Sie sich noch daran erinnern?

Mit freundlichen Grüßen

Luis Fernández Vidaud

Antwort
von Harald Wolf am 08. Januar 2010
Harald Wolf

Sehr geehrter Herr Vidaud,

es überrascht Sie vielleicht, dass ich die meisten Ihrer Kritikpunkte am Umgang von Teilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und der Politik mit anderen Kulturen und Ethnien teile.

Insofern trifft Ihre Kritik an der Partei DIE LINKE aus meiner Sicht nicht zu. Da ich nicht weiß, auf welche mutmaßlichen Positionen Sie sich beziehen, kann ich darauf konkret auch nicht antworten. Aber, Parallelitäten mit Programmatik und Geist rechtsextremer Parteien existieren nicht. Vielleicht liegt aber auch einfach ein Missverständnis vor.

Die Integrationspolitik des rot-roten Senates hier in Berlin wurde erst jüngst u.a. von der Türkischen Gemeinde Berlin Brandenburg und anderen positiv gewürdigt. Senatorin Bluhm hat Anfang November 2009 die Erarbeitung eines Integrationsgesetzes angekündigt, das die gesellschaftliche Teilhabe von Migrantinnen und Migranten verbessern und rechtlich absichern soll.

Von "Gleichschalten" kann also gar keine Rede sein, im Gegenteil: die Vielfalt von Lebensformen und Lebensentwürfen ist für uns ein hohes Gut. Gerade Berlin lebt von dieser Vielfalt, sie macht die Stadt aus, sie macht die Stadt attraktiv und lebendig.

Dennoch, da haben Sie recht, gibt es nach wie vor Rassismus und Fremdenangst, auch Fremdenfeindlichkeit. Die manchmal absichtsvolle Verwechslung von Integration mit Assimilation ist weit verbreitet.

Für uns bedeutet Integration, Teilhabe zu ermöglichen, gegenseitige Toleranz zu üben, Menschrechte zu sichern und ein menschwürdiges Leben für alle zu ermöglichen, ungeachtet dessen, welcher Gruppe sie angehören. Zu einem solchen Verständnis passt keine "deutsche Leitkultur".

Konformitätszwang, Rollendenken, geschlechtspezifische Bezahlung und patriarchale Verhaltensmuster in der Arbeitswelt, auf die Sie mit den "Mannsweibern" anspielen, sind uns als gesellschaftlich problematische Muster sehr präsent. Mein Haus reagiert darauf mit einem gleichstellungspolitischen Rahmenprogramm, das die Selbstbestimmung und Freiheit beider Geschlechter zum Ziel hat. Dies als Homogenisierungsstreben zu verstehen, wäre eine grobe Missdeutung.

Sozialer Zusammenhalt ist keine linke Zwangsbeglückungsjacke, sondern Teil der europäischen Gesellschaftstradition. Die Fragen der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleiches gehören in vielen europäischen Ländern zu Kernfragen bei der Bewertung von Politik. Den meisten Menschen sind diese Wertorientierungen wichtig. Ohne sozialen Zusammenhalt, der sehr unterschiedlich organisiert und hergestellt werden kann, zerbrechen Gesellschaften. Sozialer Zusammenhalt ist in diesem Verständnis nicht in erster Linie Staatsräson, sondern liegt im unmittelbaren Interesse jedes Einzelnen als Teil der Gesellschaft.

Ein Gegensatz zwischen Freiheit und Integration existiert aus meiner Sicht nicht. Um sich frei in einer Gesellschaft orientieren zu können und handlungsmächtig zu sein, muss man anerkannter Teil dieser Gesellschaft sein und in ihr wie ein Fisch im Wasser schwimmen können. Darauf zielt unsere Integrationspolitik im Kern ab. Für Gleichmacherei und Homogenisierung ist da weder Platz noch Bedarf.

Mit freundlichen Grüßen

Harald Wolf, Bürgermeister und Senator für Wirtschaft, Technologie und Frauen