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Beantwortet
Autor Andreas Meier am 21. Oktober 2013
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Glauben und Leben

Das ungeborene menschliche Leben

Sehr geehrter Herr Meisner,

vor kurzem habe ich erfahren, dass es in meiner Familie vor vielen Jahren eine Fehlgeburt gab (es wäre mein 2 Jahre jüngeres Geschwisterchen gewesen). Über diese Nachricht bin ich sehr bestürzt und habe mich zum ersten Mal mit dem Thema Fehlgeburt auseinandergesetzt.

Ich war schockiert, wie viele Fehlgeburten es gibt, laut Wikipedia gehen bei "20– bis 29-jährigen Frauen etwa die Hälfte der befruchteten Eizellen spontan zu Grunde" und "etwa 30 % der Frauen sind in ihrem Leben von einer oder mehreren Fehlgeburten betroffen". Demgegenüber sind die Zahlen der Abtreibungen, die ich als willentliche Tötung menschlichen Lebens auch verurteile, gering.

Meineswissens sagt die Kirche, dass ab der Befruchtung menschliches Leben mit voller Würde vorhanden ist. Als Argument gegen die Abtreibung wird ja herangezogen, dass jedes gezeugte menschliche Leben ein Recht auf das freie Leben hat. Wieso lässt es dann Gott zu, dass soviele völlig individuell "codierte" ungeborene Kinder "natürlich", ohne willentliche Zerstörungseinwirkung des Menschen, zugrunde gehen, ohne in Freiheit gelebt und Entscheidungen getroffen zu haben?

Liegt ab dem Zeitpunkt der Befruchtung eine Seele vor? Wenn ja, was geschieht mit diesen Seelen in der Ewigkeit? In einer Offenbarung hat Jesus gesagt "ich habe euch erlöst, erretten müsst ihr euch selbst". Diese Aussage kann ja nur für die "geborene Hälfte" der Menschen gelten.

Können Ungeborene nachträglich getauft werden, um zu der Anschauung Gottes zu gelangen?

Noch eine "seltsame" Frage hätte ich dazu. Wenn man Hühnereier vom Bauern kauft, kommt es ja vor, dass man, ohne es zu wissen, befruchtete Eier isst (manchmal sieht man winzige Pünktchen im Eigelb). Ist dies, auch wenn es sich nur um ein Tier handelt, moralisch überhaupt vertretbar, auch hier liegt ja Tötung ungeborenen Lebens vor?

Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir Ihre Sichtweise zu diesen Dingen darlegen könnten,

Mit freundlichen Grüßen,

Andreas Meier

+8

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Antwort
von Joachim Kardinal Meisner am 18. November 2013
Joachim Kardinal Meisner

Sehr geehrter Herr Meier!

Sie tragen Ihr Thema mit Ernst und innerer Bewegung vor, und entsprechend ernst nehme auch ich es - gerade als Theologe und Hirt der Kirche. Allerdings geht mir dabei unwillkürlich ein Psalmenwort durch den Kopf: "Ich gehe nicht um mit Dingen, die mir zu wunderbar und zu hoch sind" (131,1). Ähnlich schreibt der alttestamentliche Weisheitslehrer Jesus Sirach: "Such nicht zu ergründen, was dir zu wunderbar ist, untersuch nicht, was dir verhüllt ist. Was dir zugewiesen ist, magst du durchforschen, doch das Verborgene hast du nicht nötig. Such nicht hartnäckig zu erfahren, was deine Kraft übersteigt. Es ist schon zu viel, was du sehen darfst" (3,21-23). Damit wird kein Denkverbot ausgesprochen, wohl aber daran erinnert, dass es Dinge gibt, die für uns unergründlich sind und immer sein werden, weil sie in Gottes Mysterium verborgen liegen.

Zu diesem Mysterium gehört auch die Frage nach dem Leid und Unrecht in der Welt, die doch von dem allmächtigen, allwissenden und liebenden Gott erschaffen wurde; nichts anderes sprechen Sie ja an, wenn auch in konkretisierter Form. Ein Mensch im Mutterschoß hat noch keine Möglichkeit, sich zu verteidigen oder auch nur seine Stimme zu erheben; das macht ihn in besonderer Weise schutzbedürftig. Ansonsten aber gleichen seine Würde, seine Rechte und Ansprüche voll und ganz denen des geborenen Menschen; das ist ja - wie Sie richtig schreiben - eben der Punkt, warum die Kirche so laut ihre Stimme gegen Abtreibungen, bestimmte Formen der Stammzellen- forschung oder die PID erhebt. Der Mensch ist Mensch von Anfang (also von seiner Zeugung und Empfängnis) an; so wichtig weitere Stationen seines Lebens wie beispielsweise die Nidation (die Einnistung in die Gebärmutter- schleimhaut) für seine Entwicklung als Mensch sind, so wenig machen ihn diese erst zum Menschen.

Entsprechend lässt sich Ihre Frage nach dem "natürlichen" Tod so vieler Embryonen ebenso gut oder schlecht beantworten wie beispielsweise die Frage, warum so viele Schulkinder tödlich verunglücken oder warum so viele Menschen im besten Alter durch Krankheiten wie Krebs dahingerafft werden. Schon Hiob schrie zu Gott nach einer Antwort auf die Frage, warum er als Gerechter leiden musste. Auch Jesus hat unser Leid nicht mithilfe eines ausgeklügelten philosophischen Systems erklärt, sondern auf seine Schultern geladen und bis hinauf aufs Kreuz getragen. Wir können nur sagen, dass die Welt eben nicht so ist, wie Gottes Schöpferwille sie ursprünglich gewollt hat; wegen der Ursünde der ersten Menschen, dieses Bruchs in ihrem Gottesverhältnis und seiner Konsequenzen, die als Erbsünde auf alle ihre Nachkommen übergehen, hat sich nicht nur die Lage der Menschen zum Schlechteren gewendet, sondern auch die der ganzen Schöpfung (vgl. Genesis 3,14-19).

Ja, der Mensch ist vom ersten Augenblick seiner Existenz an beseelt. Die Seele dient ja als "Formprinzip" des Leibes, das dafür sorgt, dass der Embryo sich von Anfang an spezifisch menschlich entwickelt; das zeigen moderne Embryoskopien ebenso wie genetische Analysen. Mit einem im Mutterleib verstorbenen Menschen geschieht folglich im Prinzip dasselbe wie mit jemandem, der als Hundertjähriger sein Leben beendet: Seine Seele tritt vor Gott.

In diesem Zusammenhang eine sehr ernste Mahnung: Ich kenne Ihr angebliches Jesus-Zitat "Ich habe euch erlöst, erretten müsst ihr euch selbst" nicht; mit authentischer christlicher Offenbarung hat es jedenfalls nichts zu tun. Erlösung und (Er-)Rettung (im neutestamentlichen Urtext häufig dasselbe Wort!), Heil, Gnade, Segen: Welches Wort auch immer Sie verwenden, stets handelt es sich um das alleinige Geschenk Gottes. Unbestritten ist, dass wir mit Gottes Gnade "arbeiten" sollen; mit Selbsterlösung (oder -rettung) jedoch hat das nichts zu tun. Wie sagt doch Jesus seinen Jüngern: "Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Sklaven; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan" (Lukasevangelium 17,10). So verdienstvoll es auch sein mag, wenn ein Mensch auf ein langes und erfülltes christliches Leben zurückschauen kann: Hinsichtlich seiner Erlösung steht er nicht besser da als das ungeborene Kind. "Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben [als der Jesu Christi], durch den wir gerettet werden sollen" (Apostelgeschichte 4,12) - auch nicht unser eigener.

Nur der lebende Mensch kann getauft werden. Das heißt meiner festen Überzeugung nach aber natürlich nicht, dass der verstorbene Embryo verloren wäre. Wir dürfen dem allmächtigen und allwissenden Gott, der "will, dass alle Menschen gerettet werden" (1. Timotheusbrief 2,4), getrost zutrauen, dass er auch dann noch Wege zum Heil weiß, wenn ein Kind vor seinem Tod nicht mehr getauft werden konnte.

Wie schon oben erklärt, ist das Entscheidende beim Einsatz für das ungeborene Kind keineswegs, dass es noch nicht das Licht der Welt erblickt hat, sondern dass es bereits Mensch ist. Ein befruchtetes Hühnerei enthält ein ansatzweise entwickeltes Huhn oder einen Hahn - keinen Menschen also, sondern ein Tier, das uns zur Nahrung gegeben wurde (vgl. Genesis 9,3), auch wenn ich den Entschluss vegetarisch oder gar vegan lebender Menschen respektiere, kein Fleisch oder keine Tierprodukte zu essen.

Falls es wirklich ein ungeborenes Kind war, das Sie und Ihre Familie durch die Fehlgeburt verloren haben, dann hat es die Entscheidung für Gott nicht etwa verweigert, sondern dazu gar keine Möglichkeit gehabt. Der Katechismus der Katholischen Kirche ermutigt uns für diesen Fall mit den Worten: "Was die ohne Taufe verstorbenen Kinder betrifft, kann die Kirche sie nur der Barm- herzigkeit Gottes anvertrauen, wie sie dies im entsprechenden Begräbnisritus tut. Das große Erbarmen Gottes, der will, dass alle Menschen gerettet werden [Vgl. 1 Tim 2,4], und die zärtliche Liebe Jesu zu den Kindern, die ihn sagen lässt: "Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran!" (Mk 10,14), berechtigen uns zu der Hoffnung, dass es für die ohne Taufe gestorbenen Kinder einen Heilsweg gibt" (n. 1261). Dieser frohen Zuversicht schließe ich mich uneingeschränkt und gerne an.

Mit freundlichen Grüßen