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Autor Dörte Theodoris am 23. Oktober 2009
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Kinder und Jugend

Das defizitäre System der Stationären Jugendhilfe

Sehr geehrte Frau von der Leyen,
vorab möchte ich Ihnen mitteilen, dass es hinsichlich des Anliegens nicht um meine persönlichen Belange geht. Vielmehr geht es um meine Arbeit und um das System, indem ich mich befinde. Je mehr Zeit ich in meinem Job verbringe, desto mehr Fragen entstehen. Ich möchte, dass Sie mein Anliegen ernst nehmen, weil es um die Zukunftspfeiler unserer Gesellschaft geht, um unsere Kinder. Und so ein bisschen geht es auch um gesellschaftlichen Verfall und flächendeckende Verwahrlosung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien.
Ich arbeite seit vier Jahren in der Stationären Jugendhilfe. Ich bin in einer Wohngruppe beschäftigt, in der zehn Kinder alters- und geschlechtergemischt untergebracht sind. Ich habe in diesen kurzen vier Jahren so viele Kinder kommen und gehen sehen, dass es eigentlich kaum möglich ist. Ich habe Schicksale von Kindern erlebt, dass ich mich jeden Tag auf ein Neues gefragt habe, wie diese kleinen jungen Menschen überhaupt noch aufrecht stehen können. Unsere Aufgabe ist es, Kindern einen Schutzraum zu bieten, sie zu fördern, ihnen eine Perspektive zu bieten, sie emotional zu stabilisieren, Elternarbeit so zu organisieren, dass irgendwann das familiäre System wieder funktioniert und die Kinder in den Haushalt der Eltern zurück geführt werden können.
Was sagen Sie nun dazu, dass all dies nicht möglich ist, weil nur eins im Mittelpunkt steht, nämlich der Kostenfaktor und nicht das Wohl der Kinder. Wir sind jeden Tag 24 Stunden allein mit zehn Kindern. Wie sollen wir zehn Kinder täglich fördern, ihnen Zuwendung bieten und sie zu gesellschaftsfähigen Menschen erziehen, wenn nur so wenig Personal bereit gestellt wird und die Jugendämter absolut nichts mehr in die Kinder investieren. Wir haben KInder mit extrem differenzierten Problemlagen und sollen uns allein um zehn Kinder kümmern. Problematisch ist auch, dass wir ständig Kinder in die Gruppe gesetzt bekommen, deren Vorgeschichte und Persönlichkeitsstruktur deutlich macht, dass sie eigentlich innerhalb einer Intensivgruppe untergebracht werden müssten. Das Jugendamt ist aber erstmal darum bemüht, die Kinder in Regelgruppen unter zu bringen, weil es kostensparender ist, da der Tagessatz wesentlich niedriger ist als in einer Intensivgruppe. Fazit ist, dass die Kinder erst zu uns kommen und nach ca. zwei Monaten deutlich wird, dass die Kinder für den instituionellen Rahmen einer Regelgruppe nicht geeignet sind. Die Kinder erfahren also wieder Beziehungsabbrüche und haben wieder einmal eine Station mehr in ihrem Leben durchlaufen. Nur damit Kosten gespart werden, die letztendlich doch entstehen?
Dann habe ich Kinder und Jugendliche erlebt, die unsere Einrichtung verlassen haben, ohne auch nur ansatzweise für das gesellschaftliche Leben geeignet gewesen zu sein. Ohne Ausbildung, ohne Schulbildung, ohne soziale Kompetenzen, ohne familiären Rückhalt. Aber das spielt für die Jugendämter leider keine Rolle. Ist der junge Mensch 18., dann muss er die Einrichtung verlassen. Und jetzt lassen Sie sich bitte diesen Lebensweg eines durchschnittlichen jungen Menschen in unserer Einrichtung durch den Kopf gehen:
Der junge Mensch kommt zu uns, aufgrund der personellen Situation können wir diesem Kind leider nichts bieten. Das Kind unterzubringen kostet monatlich ca. 3000 Euro. Mit 18 Jahren wird der junge Mensch "raus geschmissen", nur um dann die nächsten Jahre Hatz IV zu empfangen. Und jetzt meine Fragen an Sie:
- Sollte Jugendhilfe so funktionieren?
- Warum wird in so viele Dinge investiert, aber nichts in die sozialbenachteiligten Kinder und Jugendlichen, die mittlerweile einen enormen Anteil unserer Gesellschaft ausmachen?
- Und wofür soll ich in meinem Job kämpfen, wenn die Perspektive eines jeden Kindes Hartz IV und Einsamkeit bedeutet?

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