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Beantwortet
Autor Sid M. am 30. April 2009
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Sonstiges

Schuster, bleib bei deinen Leisten

Sehr geehrte Frau von der Leyen,

stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Eines Ihrer Kinder hat eine schwere Mandelentzündung. Das Essen fällt ihm schwer und zu allem Überfluss leidet es unter hohem Fieber. Was würden Sie sagen, wenn sich in einer solchen Lage der Deutschlehrer dieses Kindes aufdrängt und mit dem Skalpell in der Hand für eine Notoperation zur Verfügung stellt?

Selbstverständlich würden Sie dieses Angebot ablehnen, egal wie groß Ihr Vertrauen in diesen Deutschlehrer sein mag!

Leider zeigt sich dieser vernunftbasierte Entscheidungsprozess bloß in solchen alltagsnahen Situationen.. Kaum betritt man eine abstraktere Ebene, so mischen sich Personen in diese Thematik ein, die gänzlich andere Bereiche ihr Fachgebiet eigen nennen.

Ich spreche vom desolaten Zustand der Medienkultur und des Medienverständnisses in Deutschland. Die deutsche Politik versäumte schon vor Jahren "Medienkompetenz" auf den Schulplan zu setzen, und jüngere Versuche dies nachzuholen blieben bislang unbefriedigend. Dabei ist es in der heutigen, von den Medien dominierten Gesellschaft, außerordentlich wichtig Kindern und Jugendlichen beizubringen, dass die "neuen" Medien genauso wie die althergebrachten nicht bloß zur Unterhaltung da sind, sondern auch (auf der Pro-Seite) für Kunst verwendet werden können, als auch (auf der Contra-Seite) für Manipulation missbraucht werden können.

Statt einen solchen konstruktiven und nachhaltig erfolgreichen Ansatz zu verfolgen, neigen viele Politiker, und davon sind Sie leider nicht ausgenommen, dazu die Medien- und Kunstformen Film, Comics und Videospiele als Unterhaltungsformen mit negativen psychologischen und pädagogischen Folgen abzutun. Viel mehr noch: Sie fördern, womöglich unwissentlich, die Verbreitung des in der Medienwissenschaft seit Jahrzehnten als völlig realitätsfern erwiesene "Stimulus-Response-Modell".

Dieses Kommunikationsmodell besagt, dass es in der Massenkommunikation einen Reiz gibt, welcher völlig ungefiltert vom Rezipienten aufgenommen und in eine der vorherigen Aussage gleichende Reaktion umgesetzt wird. Es gibt keine Selektierungs- oder Einschätzungsprozesse vom Empfänger, keine Rückantwort zum Sender dieser Botschaft. Noch klarer ausgedrückt: Laut diesem mehrfach widerlegten Modell setzen Medienrezipienten die Medieninhalte um. Je mehr jemand konsumiert, desto eindringlicher wird ihm der Reiz eingehämmert. Und im Falle gewalttätiger Botschaften brodelt der Rezipient eines Tages über.

Wie so oft im Leben klingt eine einfache Erläuterung einleuchtend. Doch wie in der Medizin ist das Amateurwissen häufig bloß Irrglauben. Deshalb gehen Menschen bei körperlichen Beschwerden zu ihrer Ärztin oder zu ihrem Arzt, Fachleuten, die Medizin studierten.

Die Medienerziehung und ganz besonders die Medienpolitik liegen in Deutschland dagegen in den Händen von Leuten, die keine medienexperten sind.

Sie, Frau von der Leyen, setzten sich für schwerwiegende Änderungen in der Medienwelt durch. Als Beispiel sei nur genannt, wie sie sich entgegen des Rats der "Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft” für eine Abänderung des Jugendschutzgesetzes betreffs audiovisueller Medien durchsetzten. Dabei war nach Angaben der "FSK" der Jugendschutz vor dieser Änderung besser gewährleistet.

Ich verstehe, dass Sie sich um das Wohl der Kinder sorgen. Doch Sie sollten einsehen, dass Sie damit nicht alleine stehen, und dass Medienexperten in ihren Aussagen keinesfalls "pro domo" arbeiten, sondern nach bestem Wissen und Gewissen auf die Erkenntnisse der Medienwissenschaft hinweisen.
Das von Ihnen und vielen Ihrer Parteikolleginnen und -kollegen propagandierte "Stimulus-Response-Modell" liegt fernab der Realität. Medieninhalte werden nicht ungefiltert vom Konsumenten übernommen. Entgegen der von Ihnen suggerierten Meinung sind jüngere Medien wie Filme oder Videospiele mehr als bloße Unterhaltung, sondern Kunstformen, die von Ihnen eingeführte, große Front-Alterskennzeichnung von Videospielen und Filmen dem gesunden Medienkonsum und somit dem Jugendschutz eher schaden, denn nützen.

Somit bitte ich Sie, Frau von der Leyen, lassen Sie auf politischer Ebene genauso wie im Alltag Experten die Arbeit erledigen. Als mehrfache Mutter wissen Sie viel über Familienpolitik. Doch sobald sie Ihren Fachbereich verlassen müssen, etwa mangels eines Medienministeriums, sollten Sie Ihr Ohr für die Fachleute dieses Bereiches öffnen.

Mit freundlichen Grüßen,

Sidney S.

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Antwort
von Ursula von der Leyen am 20. August 2009
Ursula von der Leyen

Sehr geehrter Herr Schering,

Ich kann Sie zumindest in einem Punkt beruhigen: Internet und Computer sind ohne Zweifel großartige Erfindungen, die nicht nur die Erwachsenenwelt bereichern. Es gibt hervorragende Web-Angebote und PC-Spiele, wie es auch gute TV-Programme gibt. Was Chancen und Risiken angeht, ist es unsinnig, eine künstliche Grenze zwischen den „alten’“ und den „neuen Medien“ zu ziehen. Es bringt auch nichts die „virtuelle Welt“ zu verteufeln oder zu verherrlichen. Internet und Computer gehören heute ganz selbstverständlich zum Alltag und Lebensgefühl von Kindern und Jugendlichen.

Dass sie die Technik virtuos bedienen können, bedeutet aber nicht, dass Kinder und Jugendliche auch automatisch in der Lage sind, alle Gefahren richtig einzuschätzen. Für den Jugendschutz in den neuen Medien gibt es kein Patentrezept, sondern viele wichtige Bausteine. Einer ist, Eltern zu unterstützen, sich sicher in dieser komplizierten Welt zu bewegen. Denn die Eltern sind und bleiben die wichtigsten Vorbilder ihrer Kinder sowohl was die Dauer als auch was die Art der Computernutzung angeht. Wenn die Eltern tagein tagaus über Stunden vor dem Bildschirm sitzen, werden sie auch ihre Kinder schwer überzeugen können, dass auch der Bolzplatz oder das Schwimmbad attraktive Optionen für den Nachmittag sind. Ich würde mir deswegen wünschen, dass auch in den Schulen noch mehr über die Bedeutung von PC, Internet und Fernsehen gesprochen wird. Hier gibt es zwar bereits viele gute Ansätze, aber wir können noch besser werden.

Jugendmedienschutz gehört zum ureigensten Fachgebiet meines Ministeriums. Deswegen nehme ich auch gerne für meine Initiativen in Anspruch „pro domo“ zu arbeiten. Seit es eine deutliche Kennzeichnung der Altersangaben auf Computerspielen gibt, kann sich niemand mehr herausreden, er habe nicht gewusst, ob ein gekennzeichnetes Spiel z.B. an einen 12-Jährigen verkauft werden kann. Für alle Eltern, die ihre Kinder schützen wollen ist das ein wichtiger Fortschritt. Und um den Ball mal zurückzuspielen: Wenn Sie über seriöse Erkenntnisse der Medienwissenschaft verfügen, dass kleine Alterskennzeichen auf der Rückseite von Spieleverpackungen Kinder und Jugendliche besser schützen als große auf der Vorderseite, dann werden die Fachleute des Bundesfamilienministeriums diese Hinweise gerne prüfen.

Mit freundlichen Grüßen