Sehr geehrter Herr Schüth,
die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist eines der wichtigsten völkerrechtlichen Dokumente überhaupt. Entstanden angesichts der schrecklichen Erfahrungen von Nationalsozialismus und Krieg, legt sie einen europäischen Menschenrechtsstandard fest, der nie wieder unterschritten werden soll und in der Bundesrepublik nun seit fast 60 Jahren gilt. In dieser Zeit ist es sogar gelungen, das Schutzniveau noch auszuweiten – sowohl räumlich (mittlerweile haben 47 Staaten die EMRK ratifiziert) als auch inhaltlich mit Hilfe sogenannter Zusatzprotokolle. Diese Zusatzprotokoll müssen von den Vertragsstaaten jeweils gesondert unterzeichnet und ratifiziert werden.
Das 12. Zusatzprotokoll hat den Schutz vor Diskriminierung durch staatliche Einrichtungen zum Gegenstand. Die Bundesrepublik hat dieses Dokument in der Tat bisher nur unterzeichnet, nicht aber ratifiziert, es hat folglich im Bundesgebiet keine bindende Wirkung. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass es in Deutschland einen unzureichenden Schutz vor Diskriminierung gäbe, im Gegenteil: In Art. 3 des Grundgesetzes ist ein allgemeines Verbot von Diskriminierung verankert, welches die staatlichen Gewalten – Verwaltung, Gesetzgebung und Rechtsprechung – unmittelbar bindet.
Zusätzlich zu diesem Grundrecht ist man in der jüngeren Zeit zu der Auffassung gelangt, dass Diskriminierungsschutz nicht nur im Verhältnis zwischen Bürgern und Staat, sondern auch in den rechtlichen Beziehungen zwischen Bürgern gesetzlich verankert sein muss.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht schon länger eine unmittelbare Anwendung von Art. 3 GG bei Arbeitsverträgen vorsah, wurde der Schutz vor Diskriminierung durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) im Jahre 2006 um Regelungen für die Bereiche des Arbeits- und Zivilrechts ergänzt. Dieser Eingriff in die Privatautonomie ist in den Augen des Gesetzgebers wegen der überragenden Bedeutung der Bekämpfung von Diskriminierung gerechtfertigt.
Die Bundesregierung hat angesichts dieser bestehenden deutschen Rechtslage als Reaktion auf Anfragen der Grünen und der FDP (Bt-Drucks. 16/6314, S. 9; 16/11603, S. 6) die Auffassung vertreten, dass eine Ratifizierung des 12. Zusatzprotokolls der EMRK dem Einzelnen keinen größeren Schutz vor Diskriminierung bieten würde. Gleichzeitig sei aber unklar, wie sich eine Ratifizierung auf das deutsche Sozial-, Arbeitsgenehmigungs-, Asyl- und Ausländerrecht auswirken würde, da in diesen Bereichen in verfassungskonformer Weise anhand der Staatsangehörigkeit differenziert werde.
Die Bundesregierung hat sich deshalb entschlossen, die Ratifizierung – welche im Hinblick auf den Schutz vor Diskriminierung wohl eher einen symbolischen Wert hätte – erst einmal nicht voranzutreiben. Es solle stattdessen abgewartet werden, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den Normtext des 2005 in Kraft getretenen 12. Zusatzprotokolls in seiner Rechtsprechung konkretisiert, um die Zweifel hinsichtlich der Auswirkungen auf die genannten deutschen Rechtsmaterien gegebenenfalls ausräumen zu können. Dieses Vorgehen ist sinnvoll, weil allein der EGMR die Interpretationshoheit über die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Zusatzprotokolle hat und seine Urteile gegenüber den Vertragsstaaten verbindlich sind.
Mit freundlichen Grüßen
Abteilung Presse und Kommunikation