Sehr geehrter Herr Dr. Seul,
das Verhältnis zwischen Politik und Medien ist keineswegs ein einseitiges, in dem die Rollen zwischen der Politik als Themengeber und den Medien als Informationsvermittler klar verteilt wären. Vielmehr sind beide voneinander abhängig und beeinflussen sich wechselseitig. Die Medien selbst sind ein wesentlicher Akteur der Meinungsbildung und setzen Themen mindestens in gleichem Maße wie die Politik. Aus dieser Tatsache leitet sich nach Ansicht des Bundestagspräsidenten auch die besondere Verantwortung der Medien für den demokratischen Prozess ab. Der Präsident bezweifelt allerdings, ob sie dieser besonderen Verantwortung immer ausreichend gerecht werden. Er hat erst jüngst bei der Konstituierung des 17. Deutschen Bundestages kritisiert, dass selbst das öffentlich-rechtliche Fernsehen auf die Übertragung dieser ersten Sitzung des neugewählten Parlaments im Hauptprogramm verzichtet hat – obwohl es bekanntlich mit einem besonderen Informationsauftrag versehen ist und nur aus diesem Grund über Gebühren finanziert wird.
Welche Themen der politischen Agenda welches Maß an medialer Aufmerksamkeit erfahren, liegt in den Händen von Journalisten und Redakteuren. Ausschlaggebend ist dabei nicht zwangsläufig die gesellschaftliche Bedeutung eines Themas, sondern es werden zunehmend unterhaltsame, schnell aufzubereitende und leicht konsumierbare Inhalte bevorzugt. Diesen Trend bewertet der Bundestagspräsident äußerst kritisch. Er sieht ein zunehmendes Missverhältnis zwischen den Dingen, über die geredet wird, und den Themen, über die geredet werden sollte.
So ist die Frage, wie die europäische Integration gestaltet werden soll und wie der Bundestag die ihm aus dem Vertrag von Lissabon zukommenden Rechte am besten nutzen kann, für die Zukunft unseres Landes sicherlich bedeutsamer als die bis ins Detail ausgeleuchtete Dienstwagennutzung einer Ministerin. Sie ist aber auch abstrakter, komplexer und schwieriger medial zu vermitteln. Dass auch ein interessierter Bürger wie Sie annimmt, der Lissabonner Vertrag sei ohne größeres Aufheben vom Parlament beschlossen worden, bestätigt dabei die an die Medien gerichtete Kritik des Bundestagspräsidenten: Denn in der Tat haben die Abgeordneten vor der Billigung des neuen EU-Vertrages im April 2008 ausgiebig sowohl über die darin enthaltenen Regelungen als auch über die Ausgestaltung des Begleitgesetzes debattiert (das eben nicht erst nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts erarbeitet wurde); im Europaausschuss haben im Vorfeld des Ratifizierungsbeschlusses allein drei öffentliche Anhörungen mit Sachverständigen stattgefunden. Diesen parlamentarischen Beratungen ist aber offensichtlich nicht in jenem Maße Aufmerksamkeit zuteil geworden, wie ihrer Bedeutung angemessen gewesen wäre. Darauf hat Prof. Dr. Lammert in dem von Ihnen zitierten Interview unter anderem hingewiesen.
Vordringliche Aufgabe von Politik ist es eben nicht, sich interessant für die mediale Wahrnehmung zu machen, sondern nach demokratischen Spielregeln Entscheidungen herbeizuführen, mit denen Rahmenbedingungen gestaltet und Probleme gelöst werden.
Mit freundlichen Grüßen
Abteilung Presse und Kommunikation