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Beantwortet
Autor Max Eberl am 01. Oktober 2010
11718 Leser · 0 Kommentare

Kultur, Gesellschaft und Medien

Eskalation in Stuttgart - Moratorium jetzt

Sehr geehrte Frau Merkel,

vor über 20 Jahren gingen in der DDR Millionen Bürger auf die Straße, um für ihre Freiheit und Demokratie zu kämpfen. Seit Monaten gehen in Stuttgart Zehntausende Bürger auf die Straße, um für Ihren Schlossgarten und gegen ein teures und nach – mehrheitlicher Meinung – auch unsinniges Bahnhofsprojekt zu kämpfen. In der Sache mag beides kaum vergleichbar sein, außer dass sich Menschen engagieren. Für sich, ihr Land und ihre Stadt. Sie tun damit genau das, was Politiker gerne fordern: Nicht die Augen schließen und wegsehen, sondern sich für etwas einsetzen und auf Missstände aufmerksam machen. Wobei die Definition von Missstand in diesem Fall wohl sehr unterschiedlich ausfallen dürfte.

Frau Merkel, Sie sagten vor kurzem im Bundestag, dass die Landtagswahl im März 2011 die Volksabstimmung über Stuttgart-21 sein solle. Dafür wäre es allerdings erforderlich, dass die baden-württembergische Bevölkerung, und insbesondere die Menschen aus der Region Stuttgart, zu diesem Zeitpunkt nicht vor vollendeten Tatsachen stehen. Mit Hilfe von über 2000 Polizeibeamten, Wasserwerfern und Pfefferspray wurde gestern und die vergangene Nacht allerdings genau damit begonnen: Tatsachen zu schaffen und erste Bäume zu fällen. Mehrere hundert Verletzte, darunter zahlreiche Jugendliche und ältere Menschen, sowie zehntausende empörte Bürger sind das Ergebnis. Hierzu noch folgende Anmerkung: Selbst wenn der baden-württembergische Innenminister Rech wiederholt behauptet, dass von den Menschen im Park Gewalt ausging – beispielsweise das Werfen von Pflastersteinen – demonstrierten die Menschen fast ausschließlich sehr friedlich. Mittlerweile dementiert die Landespolitik immerhin die Pflastersteinwürfe, versucht aber allem Anschein nach weiterhin, die Menschen in der Öffentlichkeit zu kriminalisieren. Ob dies gelingt, bezweifle ich.

Johannes Rau, letzter Bundespräsident der SPD, wählte einmal als Motto für seine Politik: „Versöhnen statt spalten“. Ein guter Leitspruch, von dem wir in Stuttgart seit gestern aber weiter denn je entfernt sind.

Wenn ihre Politik und Ihre Aussagen glaubhaft sein sollen, müssten Sie eigentlich daran interessiert sein, weitere Baumfällarbeiten im Schlossgarten und den Abriss des Südflügels unverzüglich zu verhindern.

Heute Morgen haben Sie und Ihre Fraktion im Bundestag - formal sicher rechtmäßig - eine Debatte über die Eskalation in Stuttgart aber verhindert.

Bedeutet die Haltung der Regierungsfraktionen, dass Ihre Aussage zur "Wahl als Volksabstimmung" nicht mal die Worte wert waren, sondern einzig eine Worthülse?

Verstehen Sie diese Vorgehensweise als - die viel gerühmte - verlässliche Politik?

Ich freue mich auf Ihre (also die Ihrer Mitarbeiter) Antwort sofern diese auf derzeit übliche Plattitüden wie - "Politisch und demokratisch legitimiert", "Durch zahlreiche Abstimmungen bestätigt", usw. - verzichtet. Denn meines Erachtens zeichnet es Politiker aus, wenn Sie aufgrund veränderter Sachlagen dazu fähig sind, auch gefällte Beschlüsse noch einmal zu überdenken. Einfach daran festzuhalten, mit den oben genannten Begründungen, ist entweder ein Armutszeugnis oder pure Ignoranz.

In Erwartung Ihrer Antwort

Mit freundlichen Grüßen

Max Eberl

Antwort
im Auftrag der Bundeskanzlerin am 26. Oktober 2010
Angela Merkel

Sehr geehrter Herr Eberl,

vielen Dank für Ihre Ausführungen, die wir im Namen der Bundeskanzlerin beantworten.

Die Bundeskanzlerin hat in den vergangenen Wochen mehrfach deutlich gemacht, dass sie das Projekt Stuttgart 21 für sinnvoll hält und unterstützt. Gleichzeitig begrüßt sie es, dass nun der Dialog zwischen den Gegnern und den Befürwortern des Bahnhof-Neubaus in Gang gekommen ist. Gegner und Befürworter trafen sich am 22.10. im Stuttgarter Landtag zu einem ersten Schlichtungsgespräch. Die Gespräche werden fortgesetzt.

Bei Stuttgart 21 geht es um eines der großen Zukunftsprojekte in Deutschland. Deutschland kann sich nicht verschließen, im Sinne einer nachhaltigen ökologischen Entwicklung Beiträge zu leisten und gerade auch im Verkehrsbereich Zukunftsfelder zu eröffnen. Es geht darum, offen für Fortschritte zu sein. Das bedeutet auch, in der Lage zu sein, Infrastrukturprojekte in bestimmten Zeitabschnitten fertigzustellen.

Im übrigen ist das Projekt „Stuttgart 21“ kein Bedarfsplanvorhaben. Der Bund beteiligt sich hieran finanziell mit einem Festbetrag in Höhe von 563,8 Mio. €. Das entspricht den Kosten, die für die Einbindung des Bedarfsplanvorhabens „Neubaustrecke Wendlingen-Ulm“ in den Knoten Stuttgart als „Sowieso-Kosten“ erforderlich gewesen wären. Über den genannten Festbetrag hinaus übernimmt der Bund für Stuttgart 21 keine Kostensteigerungen.

Nach neuen Berechnungen der DB AG belaufen sich die Gesamtkosten der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm auf rund 2,89 Mrd. €. Bisher war – mit Preis- und Planungsstand aus dem Jahr 2004 – von Gesamtkosten von 2,025 Mrd. € für den Neubau des insgesamt rund 60 km langen Streckenabschnitts ausgegangen worden.

Der Bund steht zu seinen Zusagen. Wir prüfen die Kostenplanungen und sind mit der Deutschen Bahn in enger Abstimmung, um die Finanzierung auch unter den Gegebenheiten der aktuellen Kostenschätzungen sicherzustellen. Es gibt keine Verhandlungen mit Baden-Württemberg über eine Beteiligung an den Mehrkosten. Nach den vorliegenden Zahlen ist die Neubaustrecke wirtschaftlich.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Presse- und Informationsamt der Bundesregierung