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Abstimmungszeit beendet
Autor Gert Flegelskamp am 31. Oktober 2007
29843 Leser · 10 Kommentare

Arbeitsmarkt

Ist die Euphorie über die Zahlen am Arbeitsmarkt begründet?

Sehr geehrte Frau Merkel,

die BA verkündet 3.433.639 Arbeitslose im Oktober, das beste Ergebnis seit 12 Jahren. Doch das ist statistische Schönfärberei, denn bei genauerer Hinsicht wird deutlich, dass es andere Zahlen gibt, wenn man die Statistik der BA ein wenig genauer durchforstet. Dann findet man

Bedarfsgemeinschaften 3.651.047
Leistungsempfänger nach SGB II 7.103.800
Davon ALG II 5.160.589
Davon Sozialgeld 1.943.211
Ausschließlich geringfügig entlohnte Beschäftigte 4.864.800 Stand August 2007
Im Nebenjob geringfügig entlohnte Beschäftigte 2.082.100 Stand August 2007
Leistungsempfänger nach § 428 SGB III 224.375 Stand Juli
Arbeitsgelegenheiten nach § 16 Abs. 3 SGB II 321.719

Hinzu kommen diverse Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung, Arbeitslose in diesen Maßnahmen werden ebenfalls als nicht arbeitslos geführt.

Die mit Stand Juli und August angegeben Zahlen sind akute Zahlen, während die anderen Zahlen hochgerechnete Zahlen sind, weil verlässliche Zahlen in der Regel erst nach 3 Monaten vorliegen (so der Hinweis in den Statistiken) und meist nach oben korrigiert werden müssen. Hinzu kommen die Daten der Optionskommunen, die nicht erfasst sind, aber bei einigen Zahlen statistisch hochgerechnet wurden.

Meine Frage lautet also, warum verkünden BA und Politik am laufenden Band Erfolgsmeldungen, wenn die echten Zahlen doch beweisen, dass die als Erfolg gepriesene Zahl eindeutig unstimmig ist, weil man verschweigt, dass Leistungsempfänger nach § 428 definitiv ältere Arbeitslose (58 Jahre und älter) sind, die sich allerdings verpflichtet haben, zum frühest möglichen Zeitpunkt in Rente zu gehen und dafür von den mannigfaltigen Repressalien der so genannten Arbeitsvermittlungen (BA und ARGE) verschont bleiben?
Warum wird permanent verschwiegen, dass die als Ein Euro Jobs bekannten Arbeitsgelegenheiten keine Arbeitsverhältnisse sind (die Bezahlung ist eine pauschale Aufwandsentschädigung), diese Leute also nach wie vor arbeitslos sind? Warum wird verschwiegen, dass diese Arbeitsgelegenheiten den Steuerzahler wesentlich teurer kommen, weil sie den Steuersäckel nicht entlasten sondern durch zusätzliche Zahlungen an die Unternehmen und kommunalen Einrichtungen (im Schnitt 500 €), die diese Ein Euro Jobber beschäftigen der Haushalt extrem stärker belastet wird? Ist es eine Erfolgsstory, wenn die Zahl von fast 7 Millionen geringfügig Beschäftigten, also Leute in Mini- oder Midi-Jobs, entweder nach amerikanischen Verhältnissen des Working Poor nur durch die Ableistung mehrer Jobs (fast 2,1 Millionen) ein halbwegs annehmbares Einkommen erreichen, die ausschließlich geringfügig Beschäftigten zwar arbeiten, aber mit ergänzendem ALG II zu jenen Leuten gehören, die mit ihrem Arbeitseinkommen nicht einmal den Sozialhilfesatz verdienen? Wenn stolz verkündet wird, dass es 40 Millionen Beschäftigte gibt, davon aber nur 27 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und von den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten wieder rund 7 Millionen mit ergänzenden Sozialleistungen, kann man dann wirklich von einer Erfolgsstory sprechen?

Ist es nicht in der Realität so, dass mit der Agenda 2010 und mit Hartz IV Instrumente geschaffen wurden, die dem Lohndumping in den unteren Einkommensklassen dienen und immer mehr Menschen in die Armut abdriften lassen? Ist es nicht so dass zahlreichen Arbeitslosen jegliche Leistung verweigert wird, aus den unterschiedlichsten Gründen und sie deshalb nicht als arbeitslos geführt werden (bekannt als graue Reserve)?

Ich jedenfalls betrachte die Aussagen der Herren Weise und Clever (BA) und der zahlreichen Politiker, allen voran Ihr Vize Müntefering, über die Erfolge als Lüge und pure Volksverdummung.

Gert Flegelskamp

Kommentare (10)Schließen

  1. Autor Sabine Schwenk
    am 31. Oktober 2007
    1.

    Lieber Herr Flegelskamp,

    Ihren Brief an Frau Merkel habe ich über meinen Email-Verteiler an alle die arbeitslos sind gesendet. Darunter sind auch einige Initiativen. Ich hoffe das vielen endlich ein Licht aufgeht. Ich werde dieses Schreiben auch in Erwerbslosenforen veröffentlichen, damit Betroffene hier Ihre Meinung kundtun können.

    Herzliche Grüße
    Sabine Schwenk

  2. Autor Harald Fitzner
    am 31. Oktober 2007
    2.

    Lieber Gert, verehrte Frau Schwenk,
    meinen Dank an den Beitrag und ebenso an seine Versendung an viele Andere incl. Initiativen. Der Verbreitung schließe ich mich mit meinen Möglichkeiten an.
    Zum Schluss äußere ich meine Bitte an die Kanzlerin, mit diesem Artikel sehr ernsthaft um zu gehen und Erkenntnis daraus zu ziehen, wie Politik und Kapital die Menschen nicht nur als Sache behandeln, sondern sie sogar abtun.

    Meinen Gruß
    Harald Fitzner

  3. Autor Peter Steiner
    am 31. Oktober 2007
    3.

    Sehr geehrter Herr Flegelskamp,

    auch ich habe Ihr Schreiben an Frau Merkel nach meinen bescheidenen Kräften in Umlauf gebracht.

    Ich möchte nur ergänzend Ihren Zeilen hinzufügen: Die Rezepte der "Hartz-Gesetze" wurden schon vor etwa 80 Jahren angewandt. Hier verweise ich auf den Aufsatz von Christof Butterwegge: "Mit dem Sozialstaat stirbt die Demokratie". Ein altes Rezept also, welches schon einmal versagte und zur Katastrophe führte. Übrigens mischte damals ein Gustaf Hartz mächtig mit. Ist aber Zufall und hat mit unserem mittlerweile kriminellen (soweit ich informiert bin 28 Verstöße gegen Gesetze) Peter Hartz nichts zu tun.

    Zudem ist durchaus eine Korrelation zwischen der Privatisierung staatlicher Hoheitsaufgaben (Verkehr, Energie, Gesundheit, Sicherheit und Bildung) und steigender Arbeitslosigkeit zu unterstellen.

    Auch schon spätestens im 2. Semester Wirtschaftswissenschaften kann man lernen, das eine Konzentration auf den Exportmarkt unter Vernachlässigung des Binnenmarktes (mittlerweile -2,2% zum Vorjahresmonat) einerseits zu steigender Arbeitslosigkeit führt und andererseits eine Volkswirtschaft extrem anfällig für Krisen macht. Hier sei der Hinweis erlaubt, das die Hartz-Gesetze nicht zur "Halbierung der Arbeitslosigkeit" führten, sondern die Binnennachfrage senkte und die Arbeitslosigkeit und die prekären Arbeitseinkommen ansteigen ließ(Hartz IV lässt grüßen). Der "Arbeitspreiskampf" mit China wird also für diese Republik ruinös enden. Zumindest für 90% der in Deutschland lebenden Bürger. Die restlichen 10% können die Champagnerkorken knallen lassen.

    Ist das so gewollt, oder leidet unsere Politik unter fachlicher Ahnungslosigkeit. Hier kann ich helfen: Ich gebe den Bundestagsabgeordneten gern Weiterbildung in VWL/BWL. Für mich ein einträgliches Geschäft und ein Fortschritt für unsere Gesellschaft.

    Viele Grüße
    Peter Steiner

  4. Autor Jürgen Rybarski
    am 01. November 2007
    4.

    Das die Arbeitslosenzahlen manipuliert sind ist klar,das ist seit Jahren so.
    Was mich persönlich sehr interessiert,ist die Behauptung,dass mehr als 200.000 "ältere Arbeitnehmer eine neue Beschäftigung gefunden haben.Da wüsste ich ganz gern einmal,was das für Arbeitsplätze sind.Gegebenenfalls werde ich mal bei Herrn Müntefering nachfragen,der sollte in seinem Laden ja wissen,was so abläuft.
    Dann geistert noch so eine Falschbehauptung durchs Land.Nämlich die,dass der Aufschwung da wäre.Also,ich merke nichts davon.Nominal verdiene ich das,was ich 1982 verdient habe-das kann ich jederzeit belegen.Wenn man davon die jährliche Preissteigerungsrate seit 1982 abzieht,dann bleibt bei mir nur ein satter Abschwung übrig.Und das merke ich sehr deutlich.

  5. Autor Jürgen Rybarski
    Kommentar zu Kommentar 3 am 01. November 2007
    5.

    Hallo Peter Steiner ;
    ich kann dem Inhalt des Beitrages nur zustimmen.Die Behauptung,dass wir uns in einem globalen Wettbewerb befinden,mag für Teilbereiche zutreffend sein.Generell gilt das wohl nicht.Denn,vor allem Dienstleistungen welche im Inland benötigt und erbracht werden unterliegen ja nicht unbedingt der Konkurrenz aus China.Der Hinweis,eine Frisörin könne nicht mehr als 3,45.-€ verdienen,weil ein Haarschnitt dort nur 45.- Cent kostet ist wohl buchstäblich an den Haaren herbeigezogen.
    Wenn ich einmal den Maschinenbau betrachte,dann sind wir dort sehr,sehr konkurrenzfähig,weil wir halt auch eine sehr hohe Produktivität vorzuweisen haben und nicht wenige Betriebe 50% der Belegschaft mit Leiharbeitern besetzt haben,welche als hochqulifizierte Facharbeiter mit 7.-€ pro Stunde abgespeist werden.Wie bei solchen Löhnen eine Inlandsnachfrage entstehen soll,das ist mir nicht ganz klar.
    Bei einem Stundenlohn von 7.-€ und Normalstunden liegt man ganz dicht an jener Einkommensgrenze,welche eigentlich noch ergänzende staatliche Transferleistungen erfordern.So explodieren halt bei 10% die Gewinne und 90% verelenden.

  6. Autor Gert Flegelskamp
    Kommentar zu Kommentar 4 am 01. November 2007
    6.

    Hallo Herr Rybarski,

    die Zahl von mehr als 200.000 älteren Arbeitslosen, die wieder Arbeit gefunden haben sollen, ist aus meiner Sicht wohl eher dem Umstand einer Subtraktion zu verdanken. Seit Februar 2006 läuft ALG I nur noch maximal 18 Monate (über 55-Jährige), darunter 12 Monate, bestenfalls 15 Monate. Die Zahl 200.000 rekrutiert wohl aus der Vorjahreszahl 544.506 (Sept. 06) im Vergleich zur aktuellen Zahl 434.474 (Sept. 07) . Da bei dieser Darstellung der BA nicht zwischen Empfängern von ALG I und ALG II differenziert wird, ist nicht zu sagen, wie hoch dabei der Anteil an Langzeitarbeitslosen ist. Dass die Zahl der über 55-Jähigen niedriger als im Vorjahr ist, kann mit der Vergabe von Ein Euro Jobs, u. a. in Münteferings Projekt 50plus, mit der Abschiebung von über 58-Jährigen ins SGB III (§428) und natürlich mit dem Wechsel in die Rente zusammenhängen. Eines ist nach meiner Erkenntnis richtig. In diesem Jahr wurden weniger Ältere entlassen, dafür aber eine relativ hohe Zahl Älterer an Zeitarbeitsfirmen abgeschoben (teilweise auch aus dem Projekt 50plus). Dort dürfen sie dann für den halben Lohn doppelte Arbeit leisten, damit statistisch Null heraus kommt.

    Früher hat man mal gesagt, Namen sind Schall und Rauch. Seit Erfindung der Statistik gilt das wohl auch für Zahlen.

  7. Autor Dirk G.
    am 01. November 2007
    7.

    Hallo Gert, ich möchte gar nicht viel hinzufügen , den wie zu erwarten war, sind Deine Beiträge , der Wahrheitsgehalt und die Anschauliche Führung Deiner mir sehr geschätzten Art des Schreibens , erstklassig. mfg Dirk

  8. Autor Jan Mette
    am 03. November 2007
    8.

    Sehr geehrter Herr Flegelskamp,
    dies ist einer der besten Beiträge die ich hier seit langem gelesen habe. Ich befürchte allerdings das die Antwort darauf nicht wirklich zufriedenstellend ausfallen wird und das ganze einfach "abgespeist" wird, so wie es hier in ähnlicher Form schon öfters passiert ist... Niemand "da oben" möchte sein Gesicht verlieren indem er diesen ganzen Mist (die Misskonzeption, das offensichtliche verdrehen von Zahlen nur um der Masse Erfolge vorzugaukeln, und die Inhumanität sowie die offensichtlich gewinnorientierte Handlungsweise der Arbeitsagenturen) zugibt, denn das würde heissen das u.a. Köpfe rollen.... Die Politik ist aber immer daran interessiert ein Gefühl der "Sicherheit", "Unfehlbarkeit" und "Stärke" zu vermitteln, auch wenn die zugrundeliegenden Konzepte völlig an der Realität vorbeigehen - und auch wenn Menschen darunter leiden müssen... Politiker müssen halt immer suggerieren das sie alles unter Kontrolle haben, denn ansonsten werden sie nicht gewählt. Dies ist aber auch ein Problem der Bevölkerung in diesem Land welche der Politik immer noch aus der Hand frisst, und auch der Konzeption dieses politischen Systems, welches immer mehr von irgendwelchen "Akteuren" genutzt wird um sich zu profilieren anstatt wirklich sinnvolle Dinge zu tun und ihre Handlungsweisen da anzusetzen wo es nötig ist... Ich würde mir wünschen wenn Politiker wieder mehr Volksnähe zeigen würden, und zwar nicht indem sie in irgendwelchen Dörfern Reden halten, sondern indem sie sich an den benachteiligten Menschen orientieren und Lösungen entwickeln, welche nicht offensichtlich dazu gedacht sind, ihnen das Leben zu erschweren... Das schwächste Glied in der Kette ist immer das, welches am meisten gefördert werden muss, sonst leiden im Endeffekt alle darunter - leider ist in Deutschland aber seit langem das Gegenteil der Fall...

    Jan Mette

    PS: Es ist so auch nicht mehr möglich bei Wahlen vernünftig abzustimmen, da die Statistiken (und somit der "Qualität" der Politiker) nicht der Wirklichkeit entsprechen...

  9. Autor Rena T
    am 05. November 2007
    9.

    voller Respekt für diesen Beitrag und auch für die Kommentare!
    Allerdings ist bei mir der Glaube an die Fähigkeit unserer Regierung zur Selbsterkenntnis längst erloschen. Die Mächtigen fühlen sich der Wahrheit nicht verpflichtet.

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