Sehr geehrter Herr Bazany,
die Kirche sieht in der Heiligen Schrift Gottes Wort in Menschenwort. Es trägt die Spuren seiner Entstehungsgeschichte an sich und ist darin immer wieder eine Mischung aus Zeitbedingtem und zeitlos Gültigem - eben dem, worin Gott selbst sich uns kundtun will. Das zeigt sich auch in den beiden - sehr unter- schiedlichen - Themenkomplexen, die Sie ansprechen. Dabei stehen Sie mit Ihren Fragen keineswegs allein, weder heute noch mit Blick auf die Vergangenheit. Schon im 2. Jh. n. Chr. wollte ein gewisser Marcion alle ihm anstößigen Teile der Heiligen Schrift entfernen. Übrig blieben das Lukas- evangelium und ein von den alttestamentlichen Zitaten befreiter Bestand an Paulusbriefen. Man sieht: Schon drei von vier Evangelien fanden vor seiner kritischen Lektüre keine Gnade. Gott sei Dank ist die Kirche diesem und vergleichbaren Ansinnen nie gefolgt. Damit sind natürlich die Probleme nicht beseitigt, aber ihre Lösung kann nur mit der Heiligen Schrift, nicht ohne oder gegen sie oder unter relativ willkürlicher Abspaltung von Einzelteilen gesucht werden.
Ich sprach von zwei verschiedenen Themenkomplexen, die Sie berühren. Der erste ist das Thema Sklaverei. Tatsächlich finden Sie weder im AT noch im NT eine Forderung nach deren Abschaffung. Viel zu selbstverständlich war sie in der Gesellschaft vor Christus und auch nach Christus verankert. Immerhin dauerte es ca. 1800 Jahre nach Christus bis sich hier wirklich etwas geändert hat. Es heißt die Heilige Schrift überfordern, von ihr etwas zu erwarten, was noch so lange Zeit gebraucht hat. Andererseits ist die Bibel für ihre Zeit bereits von geradezu revolutionärer Kraft: Ob die Zehn Gebote (Ex 20/Dtn 5) oder die Festtagsgesetzgebung des Buches Deuteronomium (Dtn 12,12.18 u.Ö.), sie alle legen fest, dass am Siebten Tag alle, auch die Sklavinnen und Sklaven dienstfrei haben, um sich Gott zuwenden und sich erholen zu können sowie Teil zu haben an der Freude, die Gott allen schenken möchte. Die Sklaven- gesetzgebung (Ex 21), die Freilassungsregelungen beinhaltet und Sklaven nicht einfach wie Sachobjekte versteht, bedeutet eine Humanisierung des Sklavenrechts im Alten Orient. Paulus schickt den Sklaven Onesimus zurück zu seinem Herrn Philemon und erwartet einen "brudergemäßen" Umgang auch mit dem Sklaven. Jesus äußert sich nicht generell, kann aber das Sklaven- dasein, das verstanden wird als eine Mischung aus Dienstleistung des Arbeitenden wie aus Fürsorge durch den Herrn des Sklaven, auf das Selbstverständnis eines Jüngers Jesu übertragen (Lk 17,10).
Diese biblische Gesamtschau relativiert die sicherlich rigidere Sicht des Weisheitslehrers Jesus Sirach, der aber bei aller Strenge in seiner Sichtweise durchaus lesens- und bedenkenswerte Worte aus Gottes Geist aufgeschrieben hat, z. B. in seiner Auslegung des Verhältnisses der Generationen (Sir 3) oder seiner großartigen Schau der gesamten Heilsgeschichte (Sir 42,15-50,24).
Num 31 ist sicherlich eines der dunkelsten Kapitel des AT. Daran ändert sich auch relativ wenig, wenn man berücksichtigt, dass hier kaum historische Wirklichkeit, sondern eher ein von Ruhe geprägtes Wunschdenken vorliegt. Hilfreicher ist es, das Kapitel nicht zu verabsolutieren. Dann steht auf einmal denjenigen, die die völlige Vernichtung fordern, der Midianiter Bileam gegenüber, der für die ihm völlig unbekannten Hebräer "nur" Segen hatte und nicht den erwarteten Fluch (Num 22-24). Da fühlt man sich fast an das Gleichnis vom Schuldner erinnert, der selbst alles erlassen bekommen hat, aber gegenüber dem Armen, der bei ihm Schulden hatte, unbarmherzig war (Mt 18,23-35). Als Gleichnis fängt auf einmal auch Numeri 31 an zu sprechen und wird zur Mahnung, sich selbst auf die Seite des Segens zu stellen.
Mit der Ermutigung, sich von den schwierigen Passagen der Hl. Schrift nicht abhalten zu lassen, die heilvolle Dimension von Gottes Wort zu entdecken und an ihr festzuhalten, grüßt Sie mit allen Segenswünschen für diese Adventszeit
Joachim Kardinal Meisner