Sehr geehrter Herr Meier,
unser Leben ist ein Geschenk Gottes: Diese fundamentale Überzeugung zieht sich durch das Alte und das Neue Testament ebenso wie durch die gesamte kirchliche Tradition hindurch. Unter allen Gnadengeschenken Gottes ist das Leben das grundlegendste, denn es ermöglicht ja überhaupt erst die Entfalt- ung weiterer Gaben und Charismen. Darum gilt für alle Zeiten die ernste Mahnung, die einst Mose dem Volk Israel gab: „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen“ (Deuteronomium 30,19).
Der Hinweis darauf, dass Gott allein Ursprung und Quell allen Lebens ist, dient nicht dessen Wohl, sondern dem unseren: „Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts“, wie uns das Zweite Vatikanische Konzil vor Augen stellt (Pastoralkonstitution 36). Wer also in dem Bestreben, unbeschränkt über das eigene Leben zu verfügen, selbstherrlich gegen den Willen des Schöpfers ver- stößt, verfehlt sich in ähnlicher Weise wie einst die Ureltern aller Menschen, die sein wollten wie Gott. So setzt er sich selbst in Gegensatz zu seinem Schöpfer; diese grundsätzliche Opposition zu Gott aber nennen wir Ver- dammnis oder Hölle.
Die Würde des Menschen basiert nicht zuletzt darauf, dass Gott auch dessen negative Entscheidungen ernstnimmt, und die Kirche kann zunächst einmal nicht umhin, dasselbe zu tun. So weist der authentische Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) sehr ernst darauf hin, dass ein Selbstmörder gegen die natürliche Neigung jedes gesunden Menschen verstößt, sein Leben zu bewahren und zu erhalten. Darüber hinaus entzieht er sich seinen sozialen Verpflichtungen. Dass „der Selbstmord … zudem der Liebe zum lebendigen Gott“ widerspricht (KKK 2281), geht schon aus den Eingangsüberlegungen hervor.
Wie Sie richtig andeuten, können „schwere psychische Störungen, Angst oder schwere Furcht vor einem Schicksalsschlag, vor Qual oder Folterung … die Verantwortlichkeit des Selbstmörders vermindern“ (KKK 2282). Es gibt aber sehr wohl auch andere Motive, in denen die schon erwähnte Selbstbe- hauptung des Menschen eine große Rolle spielt. Die stoische Philosophie beispielsweise sah es als edlen Ausdruck menschlicher Freiheit und Sou- veränität an, selbst über das Lebensende zu bestimmen; so hat es etwa der bekannte Stoiker Seneca gehalten.
Vor dieser christlich inakzeptablen Haltung warnte die Kirche, von ihr wollte sie die Gläubigen abschrecken. Deshalb sprach sie in der Regel von dem Extrem- fall, der darin besteht, dass sich ein Selbstmörder gegen und über den Willen Gottes stellt. Der Hinweis darauf, dass – wie der Katechismus an anderer Stelle ganz grundsätzlich sagt – „die Anrechenbarkeit einer Tat und die Verantwortung für sie … durch Unkenntnis, Unachtsamkeit, Gewalt, Furcht, Gewohnheiten, übermäßige Affekte sowie weitere psychische oder gesell- schaftliche Faktoren vermindert, ja sogar aufgehoben sein“ können (n. 1735), gewann erst in der Neuzeit an Boden. Kritik an der früheren kirchlichen Praxis darf dies nicht in anachronistischer Weise übersehen. Der Kirche ging es in erster Linie um das Seelenheil der Menschen; das wird man ihr schwerlich als Unbarmherzigkeit auslegen können.
Abschließend ermutigt der Katechismus uns mit den Worten: „Man darf die Hoffnung auf das ewige Heil der Menschen, die sich das Leben genommen haben, nicht aufgeben. Auf Wegen, die Gott allein kennt, kann er ihnen Gelegenheit zu heilsamer Reue geben. Die Kirche betet für die Menschen, die sich das Leben genommen haben“ (n. 2283). Über diese Hoffnung hinaus müssen wir freilich auch unserer Verantwortung für diejenigen Mitmenschen gerecht werden, die ihre Situation als sinn- und ausweglos oder unerträglich empfinden. Sowenig wir die Absicht jedes Selbstmörders voraussehen können, sowenig dürfen wir uns unserer Verpflichtung zu Nächstenliebe und gegenseitiger Fürsorge entziehen.
Mit freundlichen Grüßen