Sehr geehrter Herr Bazany,
Ihre Frage zur Bedeutung der alttestamentlichen Gesetze ist ebenso verständlich wie berechtigt. Allerdings ist sie zugleich auch recht komplex und lässt sich nicht in die einfache Gleichung "brutale Gesetzgebung im AT - barmherziger Jesus im NT" überführen.
So ist es kein Zufall, dass das für Jesus zentrale Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe mit Zitaten aus den Weisungen des Alten Testaments arbeitet: Die Gottesliebe ist prägnant in Dtn 6,4f. formuliert ("Höre Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig. Darum sollst du denn Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft."), die Nächstenliebe ist das zentrale Thema der Gesetzesforderungen in Lev 19,11-18, zusammengefasst in V 18: "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der Herr." Gerade bei diesem Vers ist interessant, dass der vorangehende Vers 17 erkennen lässt: Es geht nicht einfach nur um den "Nächsten", sondern es geht bei dem zu Liebenden um denjenigen, der Grund genug geliefert hat, dass man ihn hasst. Das Gebot der Nächstenliebe im Alten Testament ist also bereits an dieser Stelle eine vielleicht noch etwas "versteckte", aber dennoch erkennbare Form der Aufforderung zur Feindesliebe. Dasselbe ist erkennbar, wenn man die Bestimmungen zum Verhalten gegenüber dem Feind in Ex 23,4-5 liest: Das verirrte Rind des Feindes soll man diesem zurückbringen, dem unter seiner Last zusammen- brechenden Esel des Gegners Hilfe leisten. Also: Schon im Mose anvertrauten Gesetz hält Gott fest, dass "Heimzahlung" kein gottgemäßer Umgang mit Feinden ist.
Was die Rigorosität der Anwendung des Gesetzes anbelangt, besonders in Fällen der Todesstrafe, so kennt auch hier das Alte Testament zum einen bereits die Möglichkeit der Abwendung dieser Höchststrafe durch Ersatzstrafen. Vor allem ist aber auch mit dem großen Versöhnungsritus, der kaum zufällig genau die Mitte der Torah (5 Bücher Mose) bildet (Lev 16), deutlich gemacht, wie sehr bereits Vergebung im AT Gottes Wille und Forderung ist. Andererseits zeigt die Härte der Formulierungen, dass es im Handeln des Menschen immer ums Ganze geht und das Motto "Es kommt nicht so drauf an!" weder im Alten noch im Neuen Testament seine Rechtfertigung findet.
Mit alledem bleibt aber eine Widersprüchlichkeit in der Tat nicht aufzulösen: Dass bei allen guten Worten Gottes Menschen diesen Worten doch nicht trauen, ihnen zuwider handeln oder sie in einer Unbarmherzigkeit meinen umsetzen zu müssen, wie sie vermutlich nie gedacht waren. Dass Gott dies zulässt, hat mit der Freiheit zu tun, die er dem Menschen geschenkt hat. Gott wirbt um den Menschen, mit allen Mitteln. Er scheut selbst vor dem eigenen Erleiden der Todesstrafe in seinem Sohn nicht zurück. Aber er erschafft sich keine Marionetten, die nicht anders als gut handeln können. Denn dann wäre die Antwort auf seine Liebe nicht Liebe, sondern ein erzwungener Automatismus.
Mit dem Wunsch, in dieser auszuhaltenden Spannung den eigenen Glauben zu bewahren und darin Kraft für Ihre eigene Lebensgestaltung zu finden, grüßt Sie mit allen Segenswünschen für das Neue Jahr
Joachim Kardinal Meisner