Sehr geehrter Herr Terhuven!
Irrtümer und Fehler, Sünden und Verbrechen in und aus den Reihen der Kirche waren zu allen Zeiten ein Ärgernis. Wie oft ließen es schon die Apostel an Einsicht und Glaubenskraft mangeln! Stattdessen stritten sie untereinander darum, wer von ihnen der Größte sei. Petrus, der Oberste der Apostel, verleugnete seinen Herrn, Judas Iskariot verriet ihn gar. Zwar relativiert sich der eine oder andere (vermeintliche oder wirkliche) Fehltritt kirchlicher Repräsentanten, sobald man dessen historische Umstände etwas genauer betrachtet; oft liegt die Wurzel des Übels auch in einer unseligen Verquickung kirchen- und staatspolitischer Interessen. Gleichwohl lässt sich der grundsätzliche Skandal nicht leugnen. Denken wir nur an den Kindesmissbrauch durch manche kirchliche Amtsträger, den ich in gewisser Hinsicht für noch schlimmer halte als die pietätlose und zugleich symbolträchtige Schändung der Leiche des verstorbenen Papstes Formosus durch die römische Synode von 897 unter Papst Stephan VI.
Dass die Kirche nicht aus vollkommenen und fehlerlosen Glaubenshelden besteht, sondern aus Menschen wie Ihnen und mir, mit all ihren Schwächen und Vergehen, kündigt schon Jesu selbst in seinem Gleichnis vom Unkraut im Weizen an: Ein Mann säte Weizen auf seinen Acker, aber bald wuchs dort auch Unkraut. Der Mann jedoch verbot seinen Knechten, dieses auszureißen; er befahl ihnen, bis zur Ernte zu warten und erst dann das Unkraut zu vernichten, um die gute Saat nicht versehentlich mit auszureißen (vgl. Matthäusevangelium 13,24-30). Gleichermaßen wird erst am Jüngsten Tage das Versagen der Menschen - auch wenn sie der Kirche angehören - ein Ende finden.
Nicht anders lehrt der Katechismus der Katholischen Kirche: "»Während Christus, ‚heilig, schuldlos, unbefleckt‘, die Sünde nicht kannte, sondern allein die Vergehen des Volkes zu sühnen kam, umfasst die Kirche in ihrem eigenen Schoß Sünder, ist zugleich heilig und stets reinigungsbedürftig, sie geht so immerfort den Weg der Buße und Erneuerung« (LG 8). Alle Glieder der Kirche, auch ihre Amtsträger, müssen bekennen, dass sie Sünder sind. In allen wächst zwischen der guten Saat des Evangeliums bis zum Ende der Zeiten auch das Unkraut der Sünde. Die Kirche vereint sündige Menschen, die zwar vom Heil Christi erfasst, aber noch immer erst auf dem Weg zur Heiligkeit sind" (n. 827).
Es macht einen Gutteil menschlicher Würde aus, dass wir aus freiem Willen nicht nur "ja", sondern auch "nein" sagen können: zu unseren Mitmenschen wie zu Gott selbst. Eine gute Tat hat ja überhaupt nur dann ihren vollen Wert, wenn auch eine schlechte möglich ist! Schon Adam und Eva verstießen gegen Gottes Gebot, und allen ihren Nachkommen - selbst herausragenden Vertretern der Kirche - geht es zu allen Zeiten ebenso. Gewiss, der Heilige Geist geleitet die Kirche durch die Zeiten, führt sie in alle Wahrheit ein. Aber so sehr Gott auch ruft und mahnt, warnt und wirbt: Als echter Liebender, ja als die Liebe selbst trägt er uns zwar auf, seine Liebe weiterzuschenken, zwingt uns aber nicht dazu. Gottes Geleit ist keine Gehirnwäsche; als Menschen können wir uns seiner Gnade und Liebe auch verweigern!
Ich verstehe gut, dass Sie sich besonders an spektakulären, bösartigen und pietätlosen Ereignissen wie den von Ihnen aufgezählten stoßen. Aber für Gottes Liebe gibt es keine Nebensächlichkeiten. Auch die kleinen, unauffälligen, alltäglichen Lieblosigkeiten sollten uns erschrocken innehalten lassen - insbesondere wenn sie von uns selbst stammen! Mich treibt weniger die Frage um, warum Papst Stephan VI. die Leiche seines Vorgängers Formosus schänden ließ, als warum ich selbst Tag für Tag hinter Gottes Wunsch und Wille zurückbleibe. Vielleicht bringen uns die schlimmen und pietätlosen Taten von Kirchenvertretern dazu, aufzuschrecken und dem Willen Gottes aufmerksamer und leidenschaftlicher zu folgen! Dann hätten sie bei allem Schaden wenigstens auch noch einen kleinen Nutzen hervorgebracht.
Mit freundlichen Grüßen