Sehr geehrter Herr Pfaller!
Wenn ich meine Antwort auf Ihre Frage besonders prägnant formulieren wollte, wäre sie die kürzeste innerhalb der gesamten Serie "direktzumkardinal". Sie würde dann nämlich lauten: "Ich weiß es nicht." Da Sie sich aber meinem Eindruck nach nicht nur von "frommer Neugier" leiten lassen, sondern von einem echten Interesse an dem Spannungsfeld zwischen göttlicher Gnade und menschlicher Willensfreiheit, will ich Sie nicht kurz abspeisen. Freilich ergeben sich trotz unterschiedlicher Akzente in den Fragen Parallelen zu meiner bereits erfolgten Antwort zum Thema "Judas".
Beispielsweise muss ich erneut darauf hinweisen, dass uns die Heilige Schrift mit diesem Problem weitgehend alleine lässt. Dass Judas sich von Geldgier hat leiten lassen, sagt so deutlich nur der Evangelist Johannes; auch bei Matthäus deutet sich dies an, während Markus und Lukas diesen Beweggrund nicht erwähnen. Selbst das Ende des Judas ist unklar: Spricht Matthäus davon, dass Judas "wegging und sich erhängte" (vgl. 27,5), ist er gemäß der Apostelgeschichte "vornüber zu Boden gestürzt, so dass sein Leib auseinander barst" (vgl. 1,18). Der Tod des Judas: Selbstmord oder Unfall? Wir wissen es nicht.
Ebenso wenig können wir sagen, ob Judas in der Hölle ist. Sie erwähnen die einschlägigen Visionen innerhalb von Privatoffenbarungen. Im Jahre 2000 hat der damalige Kardinal Ratzinger und jetzige emeritierte Papst Benedikt XVI. einen Kommentar zum Geheimnis von Fatima verfasst, in dem er darauf hinweist, dass "zwischen der 'öffentlichen Offenbarung' und den 'Privatoffenbarungen' ... nicht nur ein gradueller, sondern ein wesentlicher Unterschied" besteht. ... "Die Autorität der Privatoffenbarungen ist wesentlich unterschieden von der einen, öffentlichen Offenbarung:" Sie "erweist sich als glaubwürdig gerade dadurch, dass sie mich auf die eine, öffentliche Offenbarung verweist". Im Klartext: Privatoffenbarungen, selbst wenn sie von renommierten Heiligen stammen, können das Schweigen der Bibel zum ewigen Schicksal des Judas nicht ausgleichen.
Gewiss: Jesus bezeichnet den Judas als "Sohn des Verderbens" (Johannesevangelium 17,12). Aber diese tiefernste Bezeichnung ruft uns zunächst einmal nur ins Gedächtnis, dass Judas die Heilsgemeinschaft der Apostel aus eigenem Entschluss verlassen hat, um Christus zu verraten. Die Schwere dieser Verfehlung war es, die gerade in der Volksfrömmigkeit für eine gut nachvollziehbare, fromme Empörung sorgte, während Dokumente des kirchlichen Lehramts den Judas nur selten erwähnen und über sein ewiges Schicksal ganz schweigen
Nochmals: Ob Judas in der Hölle ist oder nicht, bleibt uns unbekannt. Unsere Abscheu über seinen Verrat darf uns nicht vergessen lassen, dass zumindest der Evangelist Matthäus ausdrücklich von der Reue des Judas spricht: "Ich habe gesündigt, ich habe euch einen unschuldigen Menschen ausgeliefert" (27,3). Oft wird bei der Bewertung von Schuld auch ignoriert, was der Katechismus der Katholischen Kirche doch ausdrücklich lehrt: "Die Anrechenbarkeit einer Tat und die Verantwortung für sie können durch Unkenntnis, Unachtsamkeit, Gewalt, Furcht, Gewohnheiten, übermäßige Affekte sowie weitere psychische oder gesellschaftliche Faktoren vermindert, ja sogar aufgehoben sein" (n. 1735). Vergleichbar hat schon der heilige Paulus über die Machthaber dieser Welt geurteilt, die Jesus töten ließen: "... hätten sie die Weisheit Gottes erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt" (1. Korintherbrief 2,8). Entschuldigend äußert sich auch der Apostel Petrus in einer Predigt an das Volk von Jerusalem: "Den Urheber des Lebens habt ihr getötet ... Nun, Brüder, ich weiß, ihr habt aus Unwissenheit gehandelt, ebenso wie eure Führer" (Apostelgeschichte 3,15.17). Dürfen wir wirklich so selbstverständlich voraussetzen, dass Judas dazu in der Lage war, die Tragweite und die Folgen seiner Tat angemessen einzuschätzen?
Um es abschließend kurz zusammenzufassen: Hoffen können und sollen wir für jeden - auch für Judas -, weil Gott will, "dass alle Menschen gerettet werden " (1. Timotheusbrief 2,4). Im Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lukasevangelium 15,4-7) hat Jesus Christus uns die schier schrankenlose Vergebungsbereitschaft seines himmlischen Vater und die Freude über jeden einzelnen Sünder, der sich bekehrt, vor Augen gestellt. Wem sollte der Hirt denn nachgehen, wenn nicht demjenigen, der "sich in Verzweiflung verrennt", wie Sie es formulieren? Die Gnade Gottes findet ihre einzige Grenze im bewussten "Nein" des Menschen. Sollte Gott also nicht auch Judas verziehen haben - falls dieser sich in seinem Tod nicht endgültig gegenüber Gottes vergebender Liebe verschlossen hat? Nehmen wir für uns nur die Mahnung mit, dass selbst ein berufener Apostel zum Verräter werden kann - das genügt völlig für unser geistliches Leben. Weitere Spekulationen sind dann überflüssig.
Mit freundlichen Grüßen