Sehr geehrter Herr Kimmer,
so verständlich Ihre Frage bezüglich der Behandlung von Sklaven ist, so sehr unterliegt sie jedoch einem Missverständnis. Dies liegt daran, dass sich in bestimmten Sachverhalten Vorstellungen früherer Zeiten und unsere Vorstellungen keineswegs decken. Hierbei meine ich nun nicht die Einrichtung der Sklaverei an und für sich, von der Sie selbst zu Recht sagen, dass sie zur Zeit des Alten Testaments wie übrigens auch zur Zeit Jesu als gegeben angesehen wurde. Viel wichtiger ist die Vorstellung davon, wie man mit Eigentum umgeht. Dies meint nämlich im Alten Testament keineswegs einen willkürlichen oder menschenverachtenden bzw. würdelosen Umgang. Vielmehr zählen die Sklaven allesamt zur Familie. Als Eigentum gehören sie zu dem, worauf der Eigentümer besonders achtet. Allen gilt gleichermaßen der arbeitsfreie Sabbat zum Aufatmen der Seele. Natürlich ist der Eigentümer für eine ordentliche Versorgung verantwortlich. Nur so erklärt sich auch das wunderbare Psalmenwort: „Wie die Augen der Knechte auf die Hand ihres Herrn, wie die Augen der Magd auf die Hand ihrer Herrin, so schauen unsre Augen auf den Herrn, unsern Gott, bis er uns gnädig ist.“ Die Sklavin bzw. der Sklave darf von seinem Herrn etwas erwarten, und zwar letztlich Zuwendung, Gewogenheit und Freundlichkeit, wie man das hebräische Wort für „Gnade“ vielleicht am besten umschreibt. So erklärt sich übrigens auch, dass Paulus im Philemonbrief den Sklaven Onesimus zu seinem Herr zurückschickt – nicht mit der Bitte um Freilassung, sondern mit der Bitte um eine brüderliche Behandlung im Geiste Jesu Christi. Eigentum heißt biblisch eben nicht: Mit ihm darfst und kannst du machen was du willst.
Sicherlich ist es für uns Heutigen eher anstößig, dass in einigen Gesetzen unterschieden wird zwischen Sklaven aus dem Volk Israel und ausländischen Sklaven. Erstere sind wohl im Wesentlichen sogenannte Schuldsklaven gewesen. Also jemand musste sich als Sklave bei seinem Schuldherrn verdingen, um seine Schulden abzuarbeiten. Solche Sklaven mussten nach spätestens 7 Jahren freigelassen werden. Ausländische Sklaven waren wahrscheinlich angekauft und unterlagen nicht diesen Freilassungs- bestimmungen. Diese Regelungen gehören eindeutig in die begrenzte Zeit Israels als einem eigenen Nationalstaat, der mit dem babylonischen Exil (586 v. Chr.) unterging. Ab da bezeichnet „Israel“ eine Glaubens- und keine Staatsgemeinschaft, so dass eine Unterscheidung nach „Inländer“ und „Ausländer“ überhaupt nicht mehr möglich war und nicht mehr praktiziert wurde. Dass man aber in nationalstaatlichen Zeiten, in denen dieser Staat zugleich durch den Glauben an den einen Gott zusammengehalten war, Unterschiede machte zwischen dem Volk Gottes und solchen, die nicht dazu gehörten, mag aus heutiger Sicht missfallen, ist aber wohl immerhin nachvollziehbar. Wir dürfen trotz aller Größe des Wortes Gottes es nicht mit Ansprüchen überfordern, die wir erst in den letzten ca. zweihundert Jahren entdeckt haben. Schon der Kirchenvater Irenäus von Lyon (3. Jh. n. Chr.) sieht in seinem großen Werk „Gegen die Häresien“ (Adversus haereses) Gott als großen Pädagogen am Werk, der die Menschheit Schritt für Schritt erzieht. D. h. er überspringt nicht ganze Zeitepochen, sondern führt die Menschen durch die Zeiten, unter Umständen auch durch solche Epochen, die uns im Nachhinein sagen lassen: Warum haben wir das nicht schon früher erkannt?
Die Frage, warum Gott auf diesem Weg durch die Zeit nicht dies oder jenes verhindert hat, werden wir Sterbliche nicht beantworten können. Wohl bleibt immer zu fragen: War es wirklich Aufgabe Gottes, hier etwas zu verhindern, oder hätten nicht die Menschen selbst etwas verhindern können und müssen? Dieser Frage muss sich auch jede und jeder selbst in seinem Leben stellen. Die uns fehlende letzte Antwort, warum Gott manches nicht verhindert, ändert aber nichts am Bekenntnis der Heiligen Schrift: „Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens“ (Weish 11,26). Eher gab sich Gott selbst dahin, als dass er sein Eigentum, in das er kam, ohne dass es ihn aufnahm (Joh 1,11), preisgab. Mit dieser weihnachtlich-österlichen Botschaft grüßt Sie herzlich
Ihr Joachim Kardinal Meisner