Sehr geehrter Herr Jung!
Nicht nur das in der christlichen Antike wurzelnde und vom Mittelalter an entfaltete Rosenkranzgebet selbst genießt in der katholische Kirche hohes Ansehen, sondern auch ein seit 1917 gebeteter Einschub, das „Fatimagebet“. Es lautet: „O mein Jesus, verzeih uns unsere Sünden, bewahre uns vor dem Feuer der Hölle, führe alle Seelen in den Himmel, besonders jene, die deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen.“ Diese Bitten entstammen nicht – wie manche anderen christlichen Hymnen und Gebete – der Heiligen Schrift, sie sind auch nicht von berühmten Theologen entworfen worden. Das Fatima- gebet ist vielmehr Widerhall der Privatoffenbarungen, welche uns die Muttergottes bei ihrer dritten Erscheinung in Fatima geschenkt hat.
Zur angemessenen Einordnung dieses Gebetes erinnere ich daran, dass wir Christen – anders als etwa die Muslime hinsichtlich des Korans – weder die private noch die „amtliche“ Offenbarung für wortwörtlich von Gott diktiert halten („Verbalinspiration“). Gott nimmt vielmehr Menschen mit ihren Eigenarten, ihren Stärken und Schwächen in Dienst; seine Offenbarung ist daher stets „Gotteswort in Menschenwort“. Dies merkt man auch dem Fatimagebet an, das eine nicht unproblematische Formulierung enthält. „…führe alle Seelen in den Himmel, besonders jene, die deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen“: Wie kann und soll Gott denn bestimmte Seelen „besonders“ in den Himmel führen? Diese sprachliche Wendung erhält ihren wohl eher gemeinten Sinn, wenn man betet: „… führe alle Seelen in den Himmel; (wir bitten) besonders (für) jene, die deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen.“
Man wird also auch bei dem Fatimagebet nicht einfach Unfehlbarkeit und vor allem umfassende theologische Systematik voraussetzen dürfen. Es sind nicht die schlechtesten Gebete, die statt am Katheter des Theologen durch Ein- wirkung der Muttergottes in dem heißen Herzen der gläubigen Beter ent- stehen! Dass und warum der wirklich Fromme sich wünscht (nicht behauptet!), „alle Seelen [möchten] in den Himmel“ kommen, muss ich hier nicht eigens darlegen. Wer so betet, macht sich ja letztlich nur die Absichten Gottes zu eigen, von dem wir mit Gewissheit sagen können, dass er „will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1. Timotheusbrief 2,4). Dieser „allgemeine Heilswille Gottes“, wie die Theologie ihn nennt, kommt zwei Kapitel später nochmals zum Ausdruck, und zwar in einer Formulierung, die besonders in ihrer Abfolge an das Fatimagebet erinnert: Demnach ist Gott der „Retter aller Menschen, besonders der Gläubigen“ (4,10).
Auch hier wird nicht erst darauf verwiesen, dass natürlich nur diejenigen gerettet werden, die dies auch wollen und entsprechend leben. „Einer ist für alle gestorben, also sind alle gestorben“ (2. Korintherbrief 5,14): Das stimmt, obwohl wir Menschen uns durch „eine freiwillige Abkehr von Gott (eine Todsünde), in der man bis zum Ende verharrt“ (Katechismus der Katholischen Kirche 1037), der Erlösung Christi verweigern können. Unbeschadet der Willensfreiheit des Menschen, die eine wesentliche Dimension seiner Würde ausmacht, gilt das Heilsangebot allen und jedem. Die Hölle ist zwar keines- wegs nur religionspädagogischer Zeigefinger oder moraltheologisches Hilfsmittel, sondern eine durch und durch reale Möglichkeit, vor der Christus selbst mit tiefem Ernst warnt. Das eigentliche Ziel aber, das Gott dem Menschen zugedacht hat, ist einzig und allein der Himmel, die innigste Gemeinschaft mit ihm und untereinander. So hat auch die Kirche von jeher zwar gerne und eifrig bestimmte Menschen für heilig erklärt (sich also darauf festgelegt, dass diese den Himmel erreicht haben), niemals aber von irgendjemandem formal und verbindlich erklärt, dass er in der Hölle ist.
Halten wir also fest: Das Fatimagebet formuliert den eigentlich selbst- verständlichen Wunsch jedes Gläubigen, dass alle Menschen in den Himmel gelangen, also an das Ziel, das Gott selbst ihnen gesetzt hat, sowie die besondere Bitte, gerade auch denjenigen beizustehen, die der Gnadenhilfe am meisten bedürfen. Dass Menschen ihr Ziel auch verfehlen können, wird hier nicht etwa bestritten, sondern ganz einfach nicht thematisiert.
Fast beiläufig stellen Sie gegen Ende Ihrer Zeilen eine Frage, die eigentlich schon wieder ein eigenes, neues Thema ausmacht: „Wieso gibt es für uns Menschen Barmherzigkeit, für die Engel aber nicht? Im ersten Moment wirkt dies ungerecht.“ Dabei weisen Sie selbst in die richtige Richtung, wenn Sie hinzusetzen: „Etwa deshalb weil die Engel nicht irren können?“.
Gott hat alle Geschöpfe aus reiner Liebe ins Dasein gerufen und will folgerichtig auch die volle, unbegrenzte und ewige Gemeinschaft mit ihnen. Nur durch ihren eigenen Entschluss können Menschen wie Engel sich dieser Gottesgemeinschaft versagen. Nun sind Menschen Wesen aus Leib und Seele, Materie und Geist – und mit Materie ist unmittelbare Zeitlichkeit verbunden, wie antike Kirchenväter und moderne Physiker übereinstimmend sagen. Ein materielles und damit zeitliches Wesen kann seine Entscheidung ändern und (zum Guten wie zum Bösen) umkehren; darum wird ja auch kein Mensch vor seinem Tod heiliggesprochen.
Der Engel dagegen ist purer Geist, der zwar in seinem Dienst auch auf zeitliche Dinge (die Heilsgeschichte) hingeordnet ist, selbst aber nicht unmittelbar in dem „Zeitstrom“ steht. Als Geschöpf ist er zwar fehlbar, kann also sehr wohl irren; was anderes als ein schrecklicher Irrtum wäre auch die Entscheidung gegen Gott? Als Geist aber legt sich der Engel vom ersten Moment seines Seins an ein für allemal fest. So sagt auch der Katechismus: „Wegen des unwiderruflichen Charakters ihrer Entscheidung und nicht wegen eines Versagens des unendlichen göttlichen Erbarmens kann die Sünde der Engel nicht vergeben werden. Es gibt für sie nach dem Abfall keine Reue, so wenig wie für die Menschen nach dem Tode‘ (Johannes v. Damaskus, f. o. 2,4)“ (n. 393).
Mit freundlichen Grüßen