Sehr geehrter Herr Meier!
Das Schicksal des Apostels Judas Iskariot und seine Rolle in Gottes Heilsplan stellen ein dramatisches Element dar, das Menschen aller Zeiten – noch über die Christenheit hinaus – bewegt hat. Dabei ist Judas keineswegs immer und ausschließlich negativ bewertet worden: Von den gnostischen Geheimlehren in den ersten Jahrhunderten der Kirche bis hin zu modernen Interpretationen hat man ihm auch gute Absichten unterstellt. Zumeist vermutete man in solchen Fällen, Judas habe durch sein Tun eine Reaktion Jesu beziehungsweise das Eingreifen Gottes provozieren wollen, durch die das Gottesreich endgültig auf Erden etabliert werden sollte. Überwiegend freilich galt und gilt er als Inbild des Verrats, sodass sogar sein Name in eben diesem Sinne gebräuchlich wurde. Schon das wohl älteste Evangelium – das des Markus – charakterisiert Judas knapp als denjenigen, „der ihn [Jesus] dann verraten hat“ (3,19).
Auch und gerade im Hinblick auf die Willensfreiheit des Menschen und das Vorherwissen Gottes wird der Verrat des Judas unterschiedlich eingeordnet. In der bekannten Rockoper „Jesus Christ Superstar“ schreit Judas unmittelbar vor seinem Selbstmord: „Oh Gott, … ich bin benutzt werden, und du wusstest es die ganze Zeit. Oh Gott, ich werde niemals je begreifen, warum du mich für dein Verbrechen ausgesucht hast – dein schmutziges, blutiges Verbrechen. Du hast mich ermordet!“
Wenn man angemessen auf diese Frage eingehen will, dann muss man sich zunächst redlich eingestehen, dass die Evangelien uns so gut wie nichts über die Motive des Judas verraten; eine entsprechende Antwort kann also immer nur Interpretation und Spekulation sein. Der Evangelist Johannes unterstellt dem Judas grundsätzlich Geldgier, was die ebenfalls sprichwörtlich gewordenen 30 Silberlinge als Beweggrund des Verrats nahelegen würde. Auch gemäß Matthäus verlangt Judas Geld für seinen Verrat (26,14), während noch bei Markus der Hohe Rat erst nach dem Angebot des Judas eine Geldzahlung in Aussicht stellt (14,10-11). Wir dürfen folglich die Abscheu und Empörung der Evangelisten über diesen Verrat eines der auserwählten Zwölf am Gottessohn nicht unterschätzen; der streng historische Wert der Einschätzung ist daher mit entsprechender Vorsicht zu erwägen.
Die Diskrepanz zwischen der Erwählung des Judas Iskariot zum Apostel und seinem Verrat wirft ein besonders blendendes Licht auf das Problem, das Sie ansprechen: Ausgerechnet einer von denjenigen, die Jesus mit dem apostolischem Heilswirken betraut hat, verrät seinen Meister, vereitelt dadurch jedoch nicht den Heilsplan, sondern erhält einen ganz anderen Platz als den ihm zugedachten. Judas handelt – wenn ihn später auch Reue überkommt - aus eigenem Gutdünken und freiem Willen, wie ja auch Sie einräumen. Dass er (von Gott oder von Menschen) zum Verrat gezwungen worden wäre, geht aus keiner Schriftstelle hervor. Wohl hat Judas dem Bösen Raum in sich gegeben, denn dass Verrat niemals richtig ist, hätte er wissen können und müssen. Weil Judas sich so der Macht des Bösen öffnet und ihr dient, bezeichnet ihn Jesus gemäß dem Johannesevangelium wohl auch als „Teufel“: natürlich nicht, weil Judas ein Dämon wäre, sondern weil er sich mit diesen, mit ihren bösen Absichten und Taten gemein macht.
Dafür, dass Jesus das Tun des Judas wenigstens indirekt provozieren, billigen oder gar begrüßen würde, haben wir keinen Anhaltspunkt. Auch dass Jesus den Judas berufen hätte, weil er wünschte oder zumindest einplante, dass dieser ihn verraten würde, ist ebenso freie Spekulation. Jesus hat den Judas nicht zum Verräter, sondern zum Apostel berufen. Er konnte dabei aber nicht aus einem Kreis fehler- und sündenloser Wesen auswählen, sondern aus ganz normalen, fehlbaren und schwachen Menschen. Denken Sie nur an den Obersten der Apostel, an Petrus, der Jesus dreimal verleugnet hat und von diesem zuvor schon ebenfalls als „Satan“ tituliert wurde (Matthäusevangelium 16,23)! Und wie stehen denn die anderen Apostel da? Jesus muss ihnen, die sie doch Zeugen seiner Worte und Taten waren, Kleinglauben vorwerfen. Sie selbst sind unterdessen damit beschäftigt, sich darüber zu streiten, wer von ihnen denn der Größte sei – nach Lukas sogar noch im Abendmahlssaal!
Die Zwölf können wie alle anderen Menschen der Versuchung unterliegen, und es ist ausdrücklich nicht die Absicht Christi, sie vor solchen Anfechtungen ganz zu bewahren. Nicht der einzelne ist dagegen gefeit, sondern nur die Gesamtkirche, der Jesus zugesagt hat, sie werde nicht untergehen. Es macht ja paradoxerweise gerade die Würde des Menschen aus, dass er sich nicht nur für, sondern auch gegen Gott entscheiden kann. Gott legt dies nicht direkt oder auch nur indirekt fest; er will vielmehr, „dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1. Timotheusbrief 2,4), und er hat „kein Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern daran, dass er auf seinem Weg umkehrt und am Leben bleibt“ (Ezechiel 33,11).
Wenn sich aber nun ein Mensch gegen den Willen Gottes auflehnt, dann kann er auch nicht erwarten, dass Gott dies gleichgültig hinnimmt. Es geht ja im Letzten um das Heil der gesamten Schöpfung! Und so reagiert Gott in einer Weise, die mich immer an einen geübten Kampfsportler erinnert: Er wünscht sich den Angriff seines Gegners zwar nicht, unterbindet ihn aber auch nicht, sondern weiß ihn auszunützen und in eine Richtung umzulenken, die ihm selbst und seinen Plänen zugutekommt. Der Kreuzestod Jesu ist geradezu ein Paradebeispiel dafür: Natürlich war es nicht der Wunsch Gottes des Vaters, dass sein Sohn unter Todesqualen am Kreuz starb, sondern nur, dass der durch die Sünde gestörte Zustand der Welt wieder ins Gleichgewicht kommt. So nutzt Gott die mörderischen Absichten seiner Gegner und wandelt das schändlichste Tötungsinstrument der Zeit Jesu, das Kreuz, um in den Baum des Lebens, der allen Menschen das Heil bringt, die dieses annehmen. Und auch den schändlichen Verrat des Judas, den Gott nicht wollte oder gar bewusst provoziert hat, wurde zum Element des Heilsplans: ganz einfach deshalb, weil Gott auch auf krummen Zeilen gerade zu schreiben versteht.
Mit freundlichen Grüßen
Joachim Kardinal Meisner