Sehr geehrte Damen und Herren,

wie Sie sicher aus den Medien erfahren haben, werde ich am 28. August vom Amt des Ministerpräsidenten zurücktreten. Deshalb wird es mir künftig nicht mehr möglich sein, Ihre Fragen an dieser Stelle zu beantworten. Der Bürgerdialog über das Onlineportal direktzu.de hat in den zurückliegenden Jahren eine Vielzahl von Anliegen und Problemen von Ihnen, den Bürgerinnen und Bürgern, thematisiert. Ich habe mich über die anhaltende Resonanz sehr gefreut. Sie dokumentierte Ihr Interesse am Lebensumfeld, aber auch an politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen. Das Portal war für mich wichtiger Anzeiger, welche Sorgen, Probleme oder Anliegen die Menschen im Land bewegen. Es bot die Möglichkeit, politische Bewertungen aus der brandenburgischen Bevölkerung ungefiltert und direkt zu erfahren. Und ebenso offen und geradeheraus habe ich mich stets um Antwort bemüht. Für mich war darüber hinaus entscheidend, dass das Voting-Verfahren den öffentlichen Diskurs bei uns im Land befördert. Fragesteller und auch ich wussten dadurch: Das interessiert Viele!

Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihr Vertrauen und die vielen interessanten Fragen und Einschätzungen.

Herzlichst

Ihr

Matthias Platzeck

Beantwortet
Autor Jan Appelt am 09. März 2009
7941 Leser · 110 Stimmen (-5 / +105) · 0 Kommentare

Bildung

Jungendiskriminierung im Bildungssystem

Sehr geehrter Herr Platzeck,

1. In ihrem aktuellen Videopodcast gehen Sie sehr ausführlich darauf ein, was für Frauen zu tun ist etc. Aber warum haben Sie es unterlassen, hier auf den Handlungsbedarf in Bezug auf Jungen hinzuweisen? Und wann haben Sie sich jemals bei den Männern in Brandenburg bedankt?
2. Welche konkreten Jungenförderprojekte gibt es in Brandenburg? Gibt es auch Projekte zur Erhöhung des Anteils an Grundschullehrern (neben den Projekten für männliche Erzieher)? Haben Sie Zielvorgaben (d.h. z.B. "im Jahr 2012 sollen in der 5. Klasse des Gymnasiums gleich viele Jungen wie Mädchen sein")?
3. Wie stehen Sie dazu, dass es an den Universitäten Brandenburgs z.B. im Zuge von BrISaNT zwar Mädchen-, aber keine Jungenfärderung gibt (so gibt es laut http://www.brisant.uni-potsdam.de/Gesamtprogramm_GP.pdf ein Mädchenprojekt am GeoForschungsZentrum Potsdam -- und das obwohl laut http://www.uni-potsdam.de/u/gleichstellung/5JahreJuwel.pdf in Geographie ein Frauenanteil von 60% an den Neuimmatrikulierten besteht)? Gerade da die meisten Jungenprojekte ja bisher eher im Bereich Gewaltprävention/Hinterfragen tradierter Männlichkeitsbilder (Negativbeispiel: Dissens e.V.) angelegt sind (also in Bereichen, von denen keine Verbesserung der Bildungssituation von Jungen zu erwarten ist), gibt es hier ein sehr großes Potenzial zur Verbesserung der Bildungssituation von Jungen. (Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass es bisher nur Sozialisations-, aber keine Bildungsprojekte für Jungen gibt.) In diesem Zusammenhang ist auch zu fragen, warum die geisteswissenschaftlichen Fakultäten an den Universitäten beim Zukunftstag nicht teilnehmen und wie es zu so etwas: http://www.brisant.uni-potsdam.de/presse_MAZ%20Lokalteil%... kommen konnte.
4. Verschiedene Studien (z. B. LAU 5 in Hamburg: http://www.hamburger-bildungsserver.de/welcome.phtml?unte...) zeigen, dass Mädchen für gleiche Leistungen bessere Noten erhalten als Jungen und bei gleichen Noten häufiger für gymnasialgeeignet gehalten werden als Jungen. Was unternehmen Sie gegen diese direkte (nicht indirekte!) Diskriminierung von Jungen?
5. Wie viel Geld wird zur Zeit für Jungenförderung und wie viel für Mädchen-/Frauenförderung in Brandenburg verbraucht?
6. Ist Jungenförderung in Brandenburg Chefsache?
7. Im Brandenburgischen Schulgesetz steht bekanntlich noch heute unter §4(4) Folgendes:
"Keine Schülerin und kein Schüler darf wegen der Rasse, Abstammung, Nationalität, Sprache, des Geschlechts, der sexuellen Identität, der sozialen Herkunft oder Stellung, der Behinderung, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung bevorzugt oder benachteiligt werden. Einer Benachteiligung von Mädchen und Frauen ist aktiv entgegenzuwirken."
Wann wird dieser Satz endlich geschlechtsneutral formuliert?
8. Bei den vom Bildungsministerium genehmigten Untersuchungen finden sich lediglich zwei geschlechtsspezifische Projekte (nämlich http://www.mbjs.brandenburg.de/sixcms/detail.php/lbm1.c.2... und http://www.mbjs.brandenburg.de/sixcms/detail.php/bb2.c.54...), aber keine jungenspezifischen. Warum?
9. In den "Orientierungsschwerpunkte[n] für die Begutachtung von Schulbüchern" (http://www.mbjs.brandenburg.de/sixcms/media.php/bb2.a.581...) findet sich unter den zu beachtenden Aspekten:
"die verbale und tatsächliche Gleichstellung von Frau und Mann einschließlich der Sensibilisierung für die in der Praxis noch vorhandenen Benachteiligungen von Mädchen und Frauen". Wieso finden hier nur Benachteiligungen von Mädchen und Frauen gesonderte Erwähnung?
10. Wieso gibt es bei START in Brandenburg bisher 9 Mädchen, aber nur 3 Jungen (http://bildungsklick.de/pm/50019/start-erstmals-in-brande... und http://bildungsklick.de/pm/63525/start-in-brandenburg-bil...)? Werden Sie etwas unternehmen, um dieses Verhätnis auszugleichen?
11. Die Universität Potsdam schreibt in ihrem Gleichstellungskonzept (http://www.uni-potsdam.de/u/gleichstellung/Gleichstellung...):
"Die Frauenquotierung (mindestens 40 Prozent) in den hochschulinternen Promotionsprogrammen hat sich fördernd auf die Steigerung des Frauenanteils ausgewirkt."
Können Sie sich eine Jungenquote für Gymnasien vorstellen? Wenn nein, warum wird nur das Konzept einer Frauen-, aber nicht das einer Jungenquote angewandt? (Übrigens wäre selbst eine Jungenquote von 50% keine Mädchenbenachteiligung, da mehr Jungen geboren werden.)
(Dieses Dokument liefert übrigens ein Beispiel jenen Denkens, das zu der Jungenkrise geführt hat; siehe Seite 5 des Dokuments, nach Abbildung 3.)
12. Gibt es die von der Studie "Not am Mann" des Berlin Instituts vorgeschlagenen Informationskampagnen ("Mehr Jungen an die Gymnasien!")? Wenn nein, können Sie sie sich vorstellen?

Mit freundlichen Grüßen
Jan Appelt

+100

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Antwort
von Matthias Platzeck am 07. Mai 2009
Matthias Platzeck

Sehr geehrter Herr Appelt,

sie stellen eine Vielzahl von engagierten Fragen und haben sich – das lese ich heraus - sehr gründlich mit der Materie auseinandergesetzt. Ich habe davor großen Respekt. Für mich wird dadurch deutlich, wie wichtig Ihnen das Zusammenleben in unserem Land ist.

Zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen vorneweg, die illustrieren, dass der Landesregierung nichts ferner liegt, als Jungen oder junge Männer zu benachteiligen. Mit Beginn dieser Legislaturperiode wurde aus dem früheren Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie. Sie mögen einwenden, dies sei ein reiner Etikettenaustausch. Nach meinem Verständnis steht der Namenswechsel für einen umfassenderen Politikansatz.

Dieser äußert sich auch darin, dass wir in Brandenburg nicht – wie im übrigen Bundesgebiet – Ende April den Girls-Day durchführen, sondern einen Zukunftstag für Mädchen und Jungen. Die ursprüngliche Idee, Mädchen für anspruchsvolle Berufe zu interessieren, wurde bei uns zu einem Angebot für beide Geschlechter. Und weiter: In unserer Landesverwaltung haben wir Genderbeauftragte eingesetzt. Sie wirken engagiert dafür, dass überall Strukturen entstehen, die einer Benachteiligung wegen des Geschlechts entgegen wirken. Ich glaube, dass dies der einzig richtige Weg ist.

Noch ein Wort zu meinem Videopodcast zum Frauentag: Es ist unstrittig und leider überall noch vorzufinden: In Führungspositionen sind Frauen immer noch unterrepräsentiert. Und: Oftmals werden Frauen für gleiche Arbeit immer noch schlechter bezahlt. Das sind Missstände, gegen die es auch heute noch anzugehen gilt.

Doch dessen ungeachtet: Die Landesregierung und vor allem das Bildungs- und Jugendministerium beschäftigt sich seit mehreren Jahren eingehend mit den von Ihnen angesprochenen Problemen. Entscheidend dabei ist auch die Frage, was gegen den statistisch erwiesenen geringeren Schulerfolg von Jungen an allgemeinbildenden Schulen zu tun ist.

Ein Schlüssel könnte sein, Jungen mehr männliche Erzieher als Bezugspersonen zur Seite zu stellen. So gibt es mehrere Initiativen und Projekte zur Qualifizierung für männliche Erzieher. Aber: Die Ausbildung von Grundschullehrern ist nicht über Qualifizierungsmaßnahmen abzusichern, sie erfolgt an Universitäten und anschließend im Vorbereitungsdienst. Es wäre schön, wenn sich mehr junge Männer für eine Ausbildung als Grundschullehrer entscheiden würden.

Die Fachleute im Jugendministerium setzen vor allem darauf, den Anteil der Jungen bei so genannten negativen Schulkarrieren zu verringern. Hierfür werden im Rahmen der Initiative Oberschule eine Vielzahl von Projekten und darüber hinaus gezielte Vorhaben mit Schulverweigerern durchgeführt. Es geht um eine Kultur des Kümmerns mit dem Ziel, keinen zurückzulassen.

Sehr geehrter Herr Appelt, über eine nachweisbare Benachteiligung von Jungen bei der Leistungsbewertung und bei den Empfehlungen für die weiterführende Schule liegen dem Bildungsministerium keine Erkenntnisse vor. Gleichwohl ist man sich dort bewusst, dass hier mehr Sensibilität gefragt ist als dies wahrscheinlich bisher der Fall war. Die dazu eingeleiteten Anstrengungen in der Ausbildung und Fortbildung der Lehrkräfte werden erst mittelfristig Wirkungen entfalten.

Eine Richtigstellung muss ich zu Ihrer dritten Frage anbringen. Die „Brandenburger Initiative Schule und Hochschule auf dem Weg zu Naturwissenschaft und Technik“ (BrISaNT) ist ein Projekt zur Berufs- und Studienwahlorientierung, das sich sowohl an Schülerinnen als auch an Schüler der 10. bis 13. Klasse richtet. Mit diesem Projekt wird das Ziel verfolgt, strukturelle Hemmnisse in der Studien- und Berufswahl von Jungen und Mädchen zu überwinden und sie werden auch im Rahmen dieses Projektes gleichermaßen unterstützt. Ich gebe zu bedenken, dass in Brandenburg von den Abiturienten mehr junge Männer (70 Prozent) ein Studium aufnehmen als junge Frauen (60 Prozent).

Unsere Fachleute im Wissenschaftsministerium können auch nicht nachvollziehen, dass Sie den Frauenanteil an Neuimmatrikulierten im Studienfach Geographie mit der Beteiligung des GeoForschungs-Zentrum Potsdam (GFZ) am "Girls Project" in Beziehung setzen. Es handelt sich hier um zwei voneinander unabhängige Sachverhalte. Zur Klarstellung: Ihre Angaben zur Zahl der Neuimmatrikulierten im Fach Geographie bezieht sich auf veraltete Daten. Der Frauenanteil an Neu- und Erstimmatrikulierten im Bereich der Geographie beträgt hiernach nicht 60%, sondern rund 36%. Das „Girls Projekt“ am GFZ zielt darauf ab, Schülerinnen mit naturwissenschaftlichen und technischen Fächergruppen stärker vertraut zu machen. Das halte ich für eine lobenswerte Initiative.

Übrigens: Es stehen seit 2007 bis einschließlich dieses Jahr 800.000 Euro jährlich für „Familiengerechte Hochschulen und Chancengleichheit“ zur Verfügung. Diese Maßnahmen kommen auch Vätern zugute. Darüber hinaus – auch das gehört zur ganzen Wahrheit – fördern wir Programme, um Frauen auf eine Professur vorzubereiten. Dies ist notwendig, da Frauen in diesem Bereich nachweislich noch immer unterrepräsentiert sind. Die Quote für unser Land wies 2006 17,7% aus. Noch ein Wort zu den von Ihnen, Herr Appelt, festgestellten Ungleichgewichten bei den brandenburgischen START-Stipendiaten. Bedenken Sie, dass der Ausgangspunkt für die geringere Zahl bei den Jungen auch in den individuellen Bewerbungen von Schülern liegen kann.

Sie fragen auch, warum es bei den vom Bildungsministerium genehmigten wissenschaftlichen Untersuchungen nur zwei geschlechtsspezifische Projekte gibt und keine jungenspezifischen. Das Ministerium selbst führt keine Untersuchungen durch, sondern genehmigt lediglich entsprechende Anträge. Untersuchungen zu jungenspezifischen Thematiken sind bisher in Brandenburg leider nicht beantragt worden.

Bei den von Ihnen angesprochenen Orientierungsschwerpunkten bei der Schulbuchbegutachtung sieht indes auch das Ministerium Handlungsbedarf: Es beabsichtigt, bei der demnächst stattfindenden Aktualisierung dieser Schwerpunkte die von Ihnen kritisierte Passage zu ändern. Künftig soll für das Thema Benachteiligungen von Jungen und Mädchen sensibilisiert werden.

Sehr geehrter Herr Appelt, Ihrem Schreiben habe ich entnommen, dass Sie sich sehr gekonnt im Internet informieren. Deshalb zum Abschluss noch zwei Tipps für Sie und andere interessierte Leser auf dem direktzu-Portal. Die Landesregierung hat ausführlich statistische Befunde zu den von Ihnen angesprochenen Fragen, Hintergründen und insbesondere Zielen und Handlungsfeldern gegen Benachteiligungen von Jungen in einem Bericht zusammengestellt. Er wurde im Plenum des Landtags im Oktober 2007 diskutiert. Der Bericht ist abrufbar unter

http://www.mbjs.brandenburg.de/sixcms/detail.php/bb2.c.43....

Außerdem gibt es eine Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage vom Dezember vergangenen Jahres zur „Bildungssituation von Jungen in der Schule“ (LT-DS 4/7238). Sie ist abrufbar bei http://www.parldok.brandenburg.de/starweb/LTBB/start.html und stellt Informationen zu den seither getroffenen Maßnahmen unter anderem in der Lehrerbildung sowie in der Aus- und Fortbildung und bei außer unterrichtlichen Angeboten zusammen.

Mit freundlichem Gruß,